Janine Berg-Peer/ Oktober 18, 2023/ Alle Artikel, Empfehlungen, Kritisches, Vorträge/ 0Kommentare

Zwangsbehandlung auch zuhause? Ambulante Behandlungsweisung?

Vor einiger Zeit bat mich Carina Kebbel darum, ihr etwas über meine Meinung  zu Thema „Ambulante Behandlungsweisung“ zu schreiben. Ich wusste zunächst gar nicht, was das sein soll, aber soweit ich verstanden habe, soll es darum gehen, dass nicht mehr – wie bis jetzt – eine Zwangsbehandlung nur im Krankenhaus vorgenommen werde darf, sondern eben auch ambulant.  Sie hat dann auf einer Tagung in Baden-Württemberg einen, wie ich finde, hervorragende Vortrag zum Thema gehalten. Ich  möchte gerne vielen Angehörigen dieses Thema nahebringen und daher hat sie mir erlaubt, ihren Vortrag hier zu veröffentlichen. Was ich hier gerne mache.

Ethik-Tagung 2023 in Zwiefalten
Redebeitrag aus Sichtweise von Psychiatrie-Erfahrenen von Carina Kebbel
zur „Ambulanten Behandlungsweisung“

  1. Einleitung
    Nachdem ich vom LVPEBW gebeten wurde, den heutigen Beitrag aus Sichtweise der Psychiatrie-Erfahrenen zu übernehmen, fing ich an, mich intensiv mit dem heutigen Thema auseinanderzusetzen. Ich begann mit dem Aspekt „Sichtweise der Psychiatrie-Erfahrenen“. Und erinnerte mich an einen Text, den ich hierzu anlässlich einer Veranstaltung vor einiger Zeit geschrieben hatte.
  1. Die Betroffenen-Perspektive
    Gibt es eigentlich die Betroffenen-Perspektive? Die Notwendigkeit des trialogischen Austauschs (Betroffene, Angehörige und Profis) gilt inzwischen als Selbstverständlichkeit. Es wurde verstanden, dass man alle drei Perspektiven berücksichtigen muss, um Sachverhalte beurteilen und Themen angehen zu können.
    Dabei wird jedoch meines Erachtens ein Umstand sträflich vernachlässigt. Nämlich jener, dass es bei all diesen drei Perspektiven nicht die Perspektive dieser Gruppe gibt, sondern es innerhalb der jeweiligen Gruppe auch nochmal sehr große Varianzen gibt. Diese hängen zum Beispiel – wenn ich mich nun auf die Betroffenen-Perspektive fokussiere – von Fragen ab wie
    Was ist meine Grundproblematik?
    Was für eine Persönlichkeit habe ich?
    Welche Vorerfahrungen habe ich bisher im Leben gemacht?
    Was passiert um mich herum – gegenwärtig oder auch schon seit längerer Zeit?

Zwangsbehandlung auch zuhause? Ambulante Behandlungsweisung?

All diese Einflussfaktoren (und sicherlich noch viel mehr) wirken bei jeder Entscheidung oder bei jedem Sachverhalt, über den ich nachdenke, mit hinein. Ich glaube daher, dass es sich um eine hohe Komplexität handelt, die unsere Einschätzung von Themen und Sachverhalten beeinflusst.

Mir ist dies bei der gedanklichen Vorbereitung auf die Veranstaltung „Gratwanderung 4.0 – Zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung“ wieder sehr bewusst geworden. Bei dieser Veranstaltung war ich an einem Workshop beteiligt zur Betroffenen-Perspektive. Und als ich dann darüber nachdachte, was meines Erachtens wichtig sei anzusprechen, erkannte ich mal wieder: die Betroffenen-Perspektive gibt es meines Erachtens nicht. Ich gehe eher davon aus, dass es ganz viele Betroffenen-Perspektiven gibt.

Um beim konkreten Thema „Zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung“ zu bleiben: je nachdem, was Menschen bisher erlebt haben, ob sie überhaupt selbst schon Erfahrungen mit diesem Spannungsfeld gemacht haben oder nur aus Erzählungen darauf Bezug nehmen können, werden die Einschätzungen darüber, was Menschen sich gewünscht hätten oder wünschen würden sehr weit auseinanderliegen.

  1. Spannungsfeld Fürsorge vs. Selbstbestimmung

Dieser Text (in seiner ursprünglichen Form) entstand während der Vorbereitung auf eine Veranstaltung, die sich mit dem Spannungsverhältnis „Zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung“ befasst hat. Ein Thema, welches meines Erachtens auch heute im Raum steht. Die Fragen, die Ihren Überlegungen zur „ambulanten Behandlungsweisung“ zu Grunde liegen sind doch: dürfen Menschen selbstbestimmt handeln – um jeden Preis? Oder muss man sie auch „fürsorglich belagern“ dürfen?

Zwangsbehandlung auch zuhause? Ambulante Behandlungsweisung?

Das sind keine Fragestellungen, auf die es einfache Antworten geben kann. Und es sind keine Fragestellungen, auf die es Antworten geben kann, die für alle Menschen passen. Es erschien mir daher sehr wichtig, mich vorher mit verschiedenen anderen Menschen zum heutigen Thema auszutauschen, um mich gut auf diesen Vortrag vorzubereiten. Mir war es wichtig, nicht nur meine Sichtweise, sondern mehrere Sichtweisen von verschiedenen Psychiatrie-Erfahrenen einzusammeln, um eine Grundlage für meinen Redebeitrag zu haben. Und dennoch bin ich mir bewusst – und möchte auch Sie liebe Zuhörer*innen dafür sensibilisieren – dass dies nicht „die Sichtweise der Psychiatrie-Erfahrenen“, sondern eine mögliche Sichtweise aus Perspektive von Psychiatrie-Erfahrenen ist, die ich hier und heute einnehmen werde.

  1. Flyer zur heutigen Veranstaltung
    4.1 Worum geht es hier eigentlich?

Beim Lesen des Flyers zur heutigen Veranstaltung, konnte ich zunächst nicht wirklich erfassen, was mit einer „ambulanten Behandlungsweisung“ gemeint ist. Ich begriff dann aber relativ schnell, dass es um eine ambulante Zwangsbehandlung geht. Und ich erfasste, dass wohl der Gedanke einer Änderung im PsychKHG das angestrebte Ziel ist. Im Hinblick auf Menschenrechte, UN-BRK, Grundrechte, Antidiskriminierungsgesetz etc. halte ich es für rechtlich völlig ausgeschlossen, dass eine ambulante Zwangsbehandlung zulässig ist. Und das ist auch seit 2017 im BGB so verankert. Das Problem, welches ich nur sehe: wird eine solche rechtliche Regelung verfügt, dann hat diese erst einmal rechtliche Gültigkeit – bis sie jemand „weg klagt“. Und das wird für den betroffenen Personenkreis vermutlich sehr schwer sein, weil diese Menschen in der Regel nicht über die finanziellen Mittel, die Belastbarkeit und Ausdauer verfügen, um einen derartig belastenden und komplizierten Rechtsstreit auf sich nehmen zu können.

Zwangsbehandlung auch zuhause? Ambulante Behandlungsweisung?

4.2 Problematik des gewählten Bildes

Mich erschreckte zudem das für den Flyer gewählte Bild sowie der Titel der Tagung: „Ambulante Behandlungsweisung: Die Weichen in die richtige Richtung stellen.“ Finden Sie das Bild von gestellten Weichen wirklich stimmig? Bahngleise sind starre Begrenzungen, die nur einen Weg zulassen. Wie können Sie ein derartiges gedankliches Bild mit Personenzentrierung – wie sie das BTHG fordert und zur rechtlichen Bedingung macht – in Einklang bringen? Menschen sind verschieden. Menschen haben unterschiedliche Bedarfe und Bedürfnisse, auf die eingegangen werden muss. Zum Glück ist dies inzwischen rechtlich verankert. Und dies gilt nicht weniger, sondern noch mehr für die „Schwächsten der Schwachen“ – wie man Klaus Dörner zuschreibt den Personenkreis bezeichnet zu haben, um den es hier heute geht. Die Menschen, die Sie hier heute zum Thema machen, sind doch jene, die auch als „Systemsprenger*innen“, „Netztester*innen“ oder „hard-to-reach-Klient*innen“ bezeichnet werden. Jene Menschen also, die nicht einfach mit dem Standard-Angebot erreicht werden können, welches die Psychiatrie gegenwärtig bereithält. Aber ist dies das Problem dieser Menschen? Oder nicht vielmehr das Problem eines Systems, das sich mit der Begrenztheit seiner eigenen Wirksamkeit auseinandersetzen muss?

Mir ist bewusst, dass jeder Vergleich hinkt und gedankliche Bilder immer nur bis zu einem gewissen Punkt geeignet sind, um Sachverhalte zu veranschaulichen. Und so wollten Sie mit dem Bild der Weichenstellung sicherlich nicht ausdrücken, dass es nur einen starren Weg zur Genesung geben kann. Sie formulieren es ja auch – „Die Weichen in die richtige Richtung stellen.“ Geht es also heute nur darum, in welche Richtung die Weichen „richtigerweise“ gestellt werden müssen? Nach links oder nach rechts? Oder geradeaus? Und was ist denn die „final destination“? Welchen Zielbahnhof steuern wir denn an? Sind wir auf dem Weg zum gleichen Ziel? Wollen wir alle zu „Selbstbestimmung, gleiche Rechte für alle Menschen, Bedürfnis-angepasste Unterstützung“? Oder wo soll die Reise hingehen?

Zwangsbehandlung auch zuhause? Ambulante Behandlungsweisung?

4.3 Wer hat die Definitionshoheit?

Aber wer entscheidet denn, was die „richtige“ Richtung ist? Wer soll denn dafür die Definitionshoheit bekommen? Und dann wundere ich mich schon, dass hier so viele Ärzte sprechen – andere relevante Berufsgruppen jedoch fehlen. Wissen wirklich Ärzte allein, was die „richtige“ Richtung ist? Was ist denn mit all jenen Berufsgruppen, die im ambulanten Sektor für Menschen mit psychischen Krisen und Störungen tätig sind?

4.4 Wen hätte man eigentlich mit ins Gespräch nehmen müssen?

Warum sind bei dieser Tagung heute keine Mitarbeiter*innen von Gemeindepsychiatrischen Zentren oder Sozialpsychiatrischen Diensten, kein Mitarbeiter*innen der Eingliederungshilfe, keine Sozialplaner*innen, etc. als Redner*innen dabei? Und wieso wird über ein solches Thema diskutiert und nur exemplarisch eine Person für die Sichtweise der Psychiatrie-Erfahrenen eingeladen? Wen wird denn die angedachte „ambulante Behandlungsweisung“ betreffen? Wie viele Ärzte werden denn davon in der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit betroffen sein und wie viele Menschen mit psychischen Krisen und Störungen werden davon betroffen sein? Dann wäre es doch nur logisch, dass zumindest auch mehrere Menschen aus den Reihen der Psychiatrie-Erfahrenen hierzu einen Beitrag müssten einbringen dürfen. Es geht doch darum, dass – insbesondere bei schwierigen Themen – nicht nur über Menschen, sondern mit Menschen gesprochen wird. Und im Idealfall natürlich mit jenen Menschen, um die es eigentlich geht. Es wäre daher meines Erachtens notwendig, zu einem solchen Thema auch Menschen anzuhören, die immer wieder in solch massive Krisen geraten oder geraten sind. Haben sie es denn versucht, Menschen anzufragen, die diesen „Drehtür-Mechanismus“ erlebt haben? Menschen, die nach der Klinik immer wieder in eine erneute Krise gerutscht sind? Menschen, bei denen die medikamentöse Behandlung nicht (dauerhaft) das Ergebnis gebracht hat, das sie sich aus ihrer Behandler*innen-Perspektive vorgestellt hatten? Es gibt Menschen, die das erlebt haben und nun wieder in einer besseren Verfassung sind. Diese Menschen könnte, sollte – ja müsste! – man doch mal fragen, was ihnen denn geholfen hat, um sich wieder stabilisieren zu können. Daraus ließen sich doch Interventionen ableiten und erarbeiten, die wirklich das Potential haben könnten, um „Drehtür-Psychiatrie“ und Leid zu verhindern. Das sind doch die Expert*innen zu diesem Aspekt.

4.5 Notlösung: Empathie / empathische Auseinandersetzung mit der Thematik

So bleibt uns heute leider nur die Möglichkeit, uns vorzustellen wie die Menschen mit schlimmen rezidivierenden Krisen wohl ihre Ausführungen hören und erleben würden. Versuchen wir es daher vielleicht mal mit Empathie. Stellen wir uns – weil wir nun hier und heute leider keine bessere Möglichkeit haben – vor, es ginge um uns. Stellen wir uns vor, die geplante „ambulante Behandlungsweisung“ sei etwas, was als Möglichkeit diskutiert wird, um uns persönlich vor weiteren krisenhaften Zuspitzungen unseres Erlebens zu schützen. Was würden wir dann denken, wenn wir Aussagen lesen wie:

Zwangsbehandlung auch zuhause? Ambulante Behandlungsweisung?

„Ambulante Behandlungsweisung“ – was ist damit gemeint und wozu soll diese dienen? Der Zweck ist schnell erklärt: Es geht darum, Leid zu vermindern und Situationen, die gegebenenfalls mit Zwang oder Gewalt einhergehen, zu vermeiden“

Ich würde mich fragen, wer denn auf Basis welcher Definition von Leid meint, dieses vorhersehen zu können. Mich würde interessieren, welche Menschen befugt werden würden, darüber zu entscheiden, ob ich Gefahr laufe, in eine Situation des Leides zu geraten, vor der ich geschützt werden müsste. Ich hätte großes Interesse daran, für wie lange denn solch eine präventive Schutzmaßnahme ausgesprochen werden könnte. Und es würde mich interessieren, wer denn die Menschen wären, die die „ambulante Behandlungsweisung“ dann umsetzen würden. All’ diese Fragen würden mich sehr beschäftigen, wenn ich eine der Personen wäre, die vielleicht von dieser Regelung betroffen sein könnte.

Was würde mir durch den Kopf gehen, wenn ich als potenziell von dieser Maßnahme betroffene Person Aussagen lesen würde wie:

„Es geht darum, einen Ausweg zu finden aus einer Spirale von Selbst- und Fremdgefährdung, stationärer Zwangseinweisung, erfolgreicher Behandlung, Beendigung der Behandlungsmaßnahmen nach Entlassung, erneuter Zuspitzung der Situation, erneuter stationärer Notaufnahme …“

Mich würde – wenn es um mich ginge – beschäftigen, warum die Behandler*innen, denn keinen anderen Ausweg finden können, um mir Unterstützung zu bieten. Ich würde mich fragen, warum sich niemand mit der Fragestellung beschäftigt, was denn meine Gründe sind, die Medikation nach Entlassung wieder einzustellen. Wäre diese Behandlung wirklich erfolgreich und für mich sinnvoll, dann hätte ich doch keinen Grund diese wieder zu beenden. Ich würde mich fragen, warum mir denn keine wirklichen Alternativen der Unterstützung angeboten werden können, die ich für mich als sinnvoll und hilfreich erleben würde. Es gibt doch Konzepte wie FACT-Teams (Flexible Assertive Community Treatment-Teams), die durchaus das Potenzial hätten, auch Menschen wie mir – wenn ich immer wieder in schwere Krisen rutschen würde – eine Unterstützung zu bieten, die mich erreichen würde. Ich würde wissen wollen, warum mir immer wieder nur Medikamente und Klinik „angeboten“ (bzw. eigentlich alternativlos aufgedrängt) werden würden. Ich würde wissen wollen, warum mir nicht ein Entlass-Management, welches diesen Namen auch verdient und eine nahtlos an den Klinikaufenthalt anschließende meinen Bedürfnissen entsprechende Unterstützung im ambulanten Setting zur Verfügung gestellt werden könnten.

Zwangsbehandlung auch zuhause? Ambulante Behandlungsweisung?

 Wenn es um mich ginge – was würden Sätze in mir auslösen wie:

„Es geht insbesondere um die Vermeidung und Beendigung von schädlichen Drehtür-Mechanismen bei glücklicherweise nur wenigen der Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Ein Ausweg könnte eine richterlich verfügte, ambulante Behandlungsweisung, also die verpflichtende Duldung einer notwendigen Behandlung sein.“

Wenn es um mich gehen würde bei dieser geplanten Gesetzesänderung, dann würde ich von Ihnen wissen wollen, wieso Sie die geltende Gesetzeslage ignorieren und aushöhlen möchten. Es wurde bereits 2017 im BGB geregelt, dass eine Zwangsbehandlung als „letztes Mittel“ ausschließlich im stationären Setting möglich ist. Und selbst diese Regelung steht in einem Widerspruch zu Menschenrechten und zur UN-BRK.

Und ich würde Sie fragen, wieso sie die wissenschaftliche Datenlage zu vergleichbaren Regelungen wie der von Ihnen angedachten „ambulanten Behandlungsweisung“ nicht bei ihren Überlegungen berücksichtigen. Es ist doch bereits in einer Ausgabe von „the lancet“ vom 11. Mai 2013 zu lesen gewesen, dass auch die dritte und umfassendste randomisierte Studie zu CTOs ähnlich wie die Vorgänger-Studien zu dem Ergebnis kam, dass kein Nachweis gefunden werden konnte, dass CTOs das beabsichtige Ziel der Reduzierung von Wiederaufnahmen von sogenannten „Drehtür-Patient*innen mit der Diagnose Psychose erreichen konnten. CTOs das sind „community treatment orders“, die es in anderen Ländern bereits seit Längerem gibt und die wohl vergleichbar sind mit dem, was mit der „ambulanten Behandlungsweisung“ gemeint ist. Bereits in diesem Artikel von vor über 10 Jahren wird dokumentiert, dass keine Vorteile für die Patient*innen, jedoch eine wesentliche Begrenzung deren individueller Freiheit das Ergebnis sind. Solch massive Einschränkungen der persönlichen Freiheit können nur gerechtfertigt werden, wenn nach einer strengen Kosten-Nutzen-Abwägung die Vorteile für die Patient*innen deutlich die mit dieser Maßnahme verbundenen Einschränkungen überwiegen. Hierfür fehlt nach meinem Kenntnisstand bisher jedweder Nachweis. Und ohne diesen Nachweis sind diese Einschränkungen ethisch nicht vertretbar.

Zwangsbehandlung auch zuhause? Ambulante Behandlungsweisung?

  1. Meine (Doppel-)Perspektive

Als Betroffene von einer psychischen Störung und auch als Sozialarbeiterin bin ich zutiefst überzeugt vom bio-psycho-sozialen Konzept von Gesundheit und Krankheit. Ich glaube daran, dass ein Mensch mehr ist als sein Hirnstoffwechsel und ich kann das mit meiner eigenen Störung auch im Selbstversuch erfahren. Medikamente sind ein Baustein, der zur Linderung von schwierigen psychischen Symptomen beitragen kann. Aber Medikamente sind nicht die Lösung für psychische Krisen und Störungen. Und das gilt für Menschen mit leichteren Symptomen ebenso wie für jene Menschen, auf die Sie sich hier heute beziehen. Auch diese Menschen sind soziale Wesen, die mehr an Unterstützung benötigen als eine Depot-Spritze. Natürlich macht das Mühe. Selbstverständlich benötigt es Zeit, Ressourcen, ausreichend und entsprechend geschultes Personal, um einen Zugang zu diesen „Expert*innen für Eigensinn“ zu finden. Das ist jedoch die „richtige“ Richtung, in die es gehen muss. Das verlangt uns die Menschlichkeit ab – und inzwischen zum Glück auch die Rechts-Sprechung.

  1. Begrenztheit auch ihrer jeweiligen Perspektive

Abschließend erscheint es mir wichtig, auch Sie für die Begrenztheit Ihrer jeweiligen eigenen Perspektive zu sensibilisieren. Denn bei Ihren Überlegungen über die Menschen, um die es hier und heute geht, übersehen Sie einen ganz wichtigen Umstand: diese Menschen sind nicht fortlaufend so akut in der Krise, wie Sie diese (auch wiederholt) erleben. Diese Menschen waren nicht immer in einem so schwierigen Zustand – und müssen dies auch nicht für immer bleiben. Ich habe konkrete Personen im Kopf, die von dieser von Ihnen geplanten neuen Regelung betroffen sein könnten. Ich erlebe diese Menschen – in ihren guten und in ihren schwierigen Phasen. Und deswegen tut es mir wirklich weh, wenn ich mir Ihre Überlegungen zur „ambulanten Behandlungsweisung“ in der praktischen Umsetzung vorstelle und mir die Begleitwirkungen einer solchen Regelung antizipiere. Wer stellt denn dann sicher, dass sich mit diesen besonderen Menschen, die einfach nicht so recht in den von der Gesellschaft definierten Rahmen passen wollen, noch tatsächlich befasst und ihnen wirkliche und angemessene Unterstützung zur Verfügung gestellt wird? Wenn es doch dann ein bequemes und rechtlich abgesichertes Mittel gibt, um diese Menschen kostengünstig „zu versorgen“. Was ist denn dann mit der notwendigen Umsetzung des BTHG, dem damit verbundenen Paradigmenwechsel in der Unterstützung von Menschen, etc.? Mir fehlt der Optimismus dafür, zu glauben, dass sich solche Mühen dann mit den „Expert*innen für Eigensinn“ noch gemacht werden. Aber diese Menschen haben die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen auch – auch wenn sie es dem System und anderen Menschen damit manchmal nicht leicht machen. Das müssen sie ja aber auch nicht.

Und ebenso wie meine heutige Ausführung nicht „die Sichtweise der Psychiatrie-Erfahrenen“ ist, so sind auch die von Ihnen vertretenen Sichtweisen nicht „die Sichtweise der Behandler*innen“. Auch in Ihren Reihen wird es verschiedene Sichtweisen auf diesen Sachverhalt und differierende Lösungsansätze geben.

Zwangsbehandlung auch zuhause? Ambulante Behandlungsweisung?

  1. Zitat

Ich möchte meinen Redebeitrag beenden mit einem Zitat aus dem Buch „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“ von John Green.

„Zweifle du am Sternenfeuer /
zweifle an der Sonne Gang.“
William Shakespeare

Natürlich geht die Sonne nicht – das heißt, sie geht schon, aber nicht um uns herum. Selbst Shakespeare ging von grundlegenden Wahrheiten aus, deren Grundlage sich als falsch herausstellte. Wer weiß, an welche Lügen ich glaube oder du. Und wer weiß, woran wir nicht zweifeln sollten.

(S. 228 / 229)

  1. Dankeschön
  1. Quellenangaben

Persönlicher Austausch mit verschiedenen Menschen mit (und ohne) Psychiatrie-Erfahrung zu diesem Thema

Flyer abgerufen unter https://www.pprt.de/fileadmin/user_upload/Ethiktagung_2023.pdf und Eckpunktepapier zur heutigen Veranstaltung

Aderhold, V., Bock, T. & Greve, N. (2004). Fachliche Stellungnahme zu den geplanten Gesetzlichen Ergänzungen durch den § 1906a BGB und §70o FGG (Zwangsweise Zuführung zur ärztlichen Heilbehandlung und Generalbevollmächtigung für Angehörige)

Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (Hrsg.) (2018). Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Abgerufen unter https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/CRPD/CRPD_Konvention_und_Fakultativprotokoll.pdf

Becker, J. & Schlutz, D. (2019). Experten für Eigensinn. Berichte gelungener Zusammenarbeit bei herausforderndem Verhalten, erzählt von Klienten, Angehörigen und Fachkräften. Köln: Psychiatrie Verlag.

BPE (2023). Positionspapier des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener e. V. zur „ambulanten Behandlungsweisung“ abgerufen unter https://bpe-online.de/wp-content/uploads/2023/09/Warum_wir_NEIN_sagen_9-2023.pdf

BPE (2023). Statement aus Betroffenenperspektive Psychiatrie-Erfahrener anlässlich der 33. Ethiktagung zur Diskussion über die Einführung einer „Ambulanten Behandlungsweisung: Die Weichen in die richtige Richtung stellen“. (per Mail zugestellt bekommen)

Brinkmann, W. (1993). Kindesmißhandlung und Kinderschutz: Problemangemessene Hilfen zwischen karitativer Mildtätigkeit und fürsorglicher Belagerung. In Gaeßner, G., Mauntel, C., Püttbach, E. (Hrsg.), Gefährdung von Kindern. Problemfelder und präventive Ansätze im Kinderschutz (S. 94-122). Opladen: Leske + Budrich.

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) (o. J.). § 1832 Ärztliche Zwangsmaßnahmen. Abgerufen unter

https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__1832.html#:~:text=§%201832%20Ärztliche%20Zwangsmaßnahmen&text=1.,2.

Burns, T., Rugkasa, J., Molodynski, A., Dawson, J., Yeeles, K., Vazquez-Montes, M., Voysey, M., Sinclair, J. & Priebe, S. (2013). Community treatment orders for patients with psychosis (OCTET): a randomized controlled trial. Lancet, 381, 1627-33. Abgerufen unter https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(13)60107-5/fulltext

Burns, T., Yeeles, K., Koshiaris, C., Vasquez-Montes, M., Molodynski, A., Puntis, S., Vergunst, F. Forrest, A., Mitchell, A., Burns, K. & Rugkasa, J. (2015). Effect of increased compulsion on readmission to hospital or disengagement from community services for patients with psychosis: follow-up of a cohort from the OCTET trial. Lancet, 2, 881-90. https://www.thelancet.com/journals/lanpsy/article/PIIS2215-0366(15)00231-X/fulltext

Burns, T., Rugkasa, J., Yeeles, K. et al. (2016). Coercion in mental health: a trial of the effectiveness of community treatment orders and in investigation of informal coercion in community mental health care. Southampton (UK): NIHR Journals Library, 2016 Dec. (Programme Grants for Applied Research, No. 4.21.) Abgerufen unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK401972/

Debus, S. (2022). Der „aggressive Risikopatient“ – als Konstrukt. Soziale Psychiatrie, 2, 8-12. Abgerufen unter https://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/dgsp/SP/SP_176/SP_176_Debus_Der_aggressive_Risikopatient.pdf

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (o. J.) Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz abgerufen unter

https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/beteiligen/fd-personenzentrierung-in-der-eingliederungshilfe/

Green, J. (2022). Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken (5. Aufl.). München: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (1949). Abgerufen unter https://www.gesetze-im-internet.de/gg/GG.pdf

Höllmüller, H. (2022). Hard-to-reach abgerufen unter https://www.socialnet.de/lexikon/Hard-to-reach

LapK (2015). Therapie und Schutz bei geschlossenen Türen. Unbeirrbar, 49, 8-9. Abgerufen unter https://www.lapk-bayern.de/wp-content/uploads/2020/08/unbeirrbar-maerz-2015.pdf

Lippert, J. (2023). Die nicht enden wollende Geschichte… abgerufen unter https://kobinet-nachrichten.org/2023/09/01/die-nicht-enden-wollende-geschichte/

Manning, S. (2013). ´Psychiatric Asbos`were an error says key advisor abgerufen unter https://www.independent.co.uk/life-style/health-and-families/health-news/psychiatric-asbos-were-an-error-says-key-advisor-8572138.html

Moncrieff, J. (o. J.). How can Community Treatment Orders still be justified? abgerufen unter https://joannamoncrieff.com/2013/12/03/how-can-community-treatment-orders-still-be-justified/

Psychiatrie-kritische Initiative Tübingen (PKIT) und Psychismus-Stoppen (2023). Online-Vortrag „ambulante psychiatrische Zwangsbehandlung“ am 03.10.2023 via Zoom

Saschenbrecker, T. (2005). Stellungnahme abgerufen unter https://www.die-bpe.de/saschi_stellungnahme.htm

Traub, H.-J. & Ross, T. (2023). Ein Revival der “Forensifizierung”? Die aktuelle Entwicklung des Maßregelvollzugs nach § 63 StGB. Recht & Psychiatrie, 41, 150-159

Veldhuizen van, J. R. & Bähler, M. (2013), Erstellung der deutschen Version durch Niehaus, V., Wüstner, A. & Lambert, M. Flexible Assertive Community Treatment (FACT)-Manual. Abgerufen unter https://www.dvgp.org/fileadmin/user_files/dachverband/dateien/Materialien/FACT_Manual_und_QM-Skala_deutsch.pdf

Vereinte Nationen (1948). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Abgerufen unter https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf

Vollmann, J. (Hrsg.) (2017). Ethik in der Psychiatrie. Ein Praxisbuch. Köln: Psychiatrie Verlag.

Weinmann, S. (2019). Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets. Köln: Psychiatrie Verlag.

Mein Kommentar: Ich finde das einen sehr reflektierten, klugen, emphatischen und anregenden Vortrag. Und wie Carina Kebbel wundere ich mich auch, dass bei einem so einschneidenden Thema nur Ärzte:innen eingeladen wurden. Carin Kebbel als Betroffenen war der Paradiesvogel oder die Alibi-Teilnehmerin. Zurecht mahnt sich, dass weitere Berufsgruppen sicher Vieles dazu hätten beitragen könnten. Und als kleine Anmerkung von mir: Auch wir Angehörigen könnten Einiges dazu beitragen.

Carina Kebbel, Sozialarbeiterin,
Mitglied im Landesverband für Psychiatrie-Erfahrene LVPEBW e. V.

Carina ist Sozialarbeiterin und arbeitet bereits seit 13 Jahren in einem Sozialpsychiatrischen Dienst und einer Tagesstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Aus diesem Grund habe ich auch ab 2018 (ergänzend zu meinem grundlegenden Studium als Dip.-Sozialarbeiterin / Dipl.-Sozialpädagogin (FH) ) noch ein berufsbegleitendes Fernstudium mit dem Schwerpunkt Klinische Sozialarbeit gemacht und mit einem Master-Abschluss beendet.
Das alles habe ich trotz meiner Zwangsstörung geschafft, die mich schon begleitet seit ich ca. 20 Jahre alt bin und phasenweise durchaus massiv mein Leben und meinen Alltag eingeschränkt hat. Aus diesem Grund ist es mir auch ein persönliches Anliegen, dass Menschen mit psychischen Krisen und Störungen nicht diskriminiert und unrecht behandelt werden.

 

 

 

Zum Nachlesen:

Ethik-Tagung_2023_pdf-Vortrag

Flyer 1-Eckpunkte für ambulante Behandlungsweisungen – Diskussionsgrundlage

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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