Janine Berg-Peer/ Dezember 11, 2023/ Alle Artikel, Angehörige, Empfehlungen, Kritisches, Vorträge/ 0Kommentare

Sorgen-machen ist eine Fortsetzung des Dramas auf der Gegenseite. Wahnsinn sind ja auch überbrodelnde Gefühle bei den Betroffenen und man antwortet darauf mit dem Verstand und nicht auch noch mit Gefühlen, Sorgen sind Gefühle. Der Angehörige muss seine Gefühle in den Verstand und die Vernunft schieben.
Angelika Bütow, Psychotherapeutin, von der ich über lange Jahre viel gelernt habe

 Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Die psychische Erkrankung eines Kindes ist ein Schicksalsschlag, der uns unvorbereitet trifft und unser Leben von einem Moment auf den anderen verändert. Die Welt ist für uns von diesem Moment an nicht mehr der Ort, an dem wir uns sicher gefühlt haben. Die Diagnose stellt uns vor Herausforderungen, denen wir zunächst nicht gewachsen sind. Oft sind vor der Diagnose schon Jahre vergangen, in denen wir eine langsame Veränderung bei unserem Kind miterlebt haben, die uns beunruhigt und die wir nicht verstehen. Warum lassen die Schulleistungen plötzlich nach? Warum kommt sie morgens nicht aus dem Bett, warum versinkt ihr Zimmer allmählich im totalen Chaos? Weshalb ist er ständig schlecht gelaunt, reagiert auf jede Bitte um etwas Mithilfe im Haushalt mit Wutausbrüchen? Warum weint sie ständig oder sagt, dass sie Angst hat? Warum liegt er den ganzen Tag im Bett, hat Schule, Ausbildung oder Studium ohne erkennbaren Grund abgebrochen? Wenn dann noch Aussagen hinzukommen, dass die Nachbarn ihn beobachten, oder dass in den Bildern an den Wänden seines Zimmers Kameras eingebaut sind, dann begreifen wir, dass hier etwas nicht stimmt, dass es nicht nur die Pubertät sein kann, Liebeskummer oder zu viel Stress in der Schule oder ihm Studium Jetzt suchen wir Hilfe bei einem Psychiater.

Für manche Angehörige ist es dann nach diesen schwierigen Jahren fast eine Erleichterung, wenn ihnen erklärt wird, dass ihr Kind an einer psychischen Erkrankung leidet. Die Etiketten Schizophrenie, bipolar, Borderline oder Depression machen uns zwar Angst, aber viele Angehörige glauben anfangs, dass nun alles gut oder wenigstens besser wird: Die Psychiater habe eine Erkrankung diagnostiziert, dann werden sie jetzt auch die passende Behandlung vorschlagen können. Wir hoffen, dass unser Kind bald wieder so ist, wie wir es kannten. Oft müssen wir aber dann erleben, dass Medikamente, der Krankenhausaufenthalt oder eine Psychotherapie doch nicht so schnell oder gar nicht helfen. Nach Wochen im Krankenhaus ist unser Kind vielleicht ein wenig ruhiger geworden, die Positivsymptome sind abgeklungen und die verbalen Aggressionen werden seltener. Aber unser Kind ist nicht „wie vorher“, es ist nicht mehr der Sohn oder die Tochter, wie wir sie gekannt haben.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Die verwirrende Situation mit unserem erkrankten Kind bleibt nicht ohne Folgen für uns selbst. Auch unser Selbstbild, unsere Identität kann in Mitleidenschaft gezogen werden. Um soziale Beziehungen zu gestalten, brauchen wir gute Copingstrategien, wir müssen uns kompetent fühlen, gut mit unseren Kindern umzugehen oder auch freundschaftliche Beziehungen zu Freunden und Familie aufrechterhalten zu können. Anfangs reagieren wir auf das Chaos in unserer Familie mit gewohnten Copingstrategien: Wir mahnen, bitten, argumentieren, versuchen es mit Überredung, mit Liebe, mit Gleichmut oder mit Strenge: Aber nichts hilft. Das betroffene Kind kann sich nicht an Regeln des sozialen Zusammenlebens halten. Im Umgang mit unserem erkrankten Kind müssen wir feststellen, dass unsere bisher erprobten Copingstrategien nicht mehr funktionieren.

Wenn Menschen zusammenleben, müssen auch bestimmte Gefühle geteilt oder verstanden werden: Wenn ich aggressiv werde, muss ich erkennen, dass jemand gekränkt ist. Ich muss verstehen, dass mein Verhalten eine andere Person traurig oder wütend oder glücklich machen kann. Aber plötzlich können wir nicht mehr verstehen, warum unser Kind wütend oder traurig ist. Dieses Gefühl, einem verwirrenden Verhalten hilflos ausgesetzt zu sein, verwirrt auch uns.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Sind wir doch keine guten Eltern? Bis jetzt hatten wir ein Bild von uns als gute Mutter oder Familienvater, aber plötzlich stimmt das nicht mehr. Bis jetzt waren wir Eltern, die ihre Rolle gut ausfüllen konnten: Wir haben unsere Kinder geschützt und gefördert, dafür gesorgt, dass sie sich gut weiterentwickeln können, und haben ihnen vermittelt, wie man in einer sozialen Gemeinschaft lebt. Plötzlich leidet aber unser Kind an einer beängstigenden Krankheit, von der wir insgeheim nicht genau wissen, ob wir sie nicht vielleicht verschuldet haben. Wir wissen plötzlich nicht mehr, ob unser Bild von uns noch stimmt: Vielleicht waren wir doch keine guten Eltern? Haben wir Sie nicht ausreichend gefördert, sind nicht auf sie eingegangen? Das kann uns das Gefühl geben, in einem bestimmten Bereich unserer Identität nicht mehr kompetent zu sein. Bislang haben wir gewusst, wie wir uns in Konflikten verhalten, wie wir auf Gefühlsausbrüche unseres Kindes reagieren oder wie wir in der Familie Frieden wiederherstellen. Unsere Fähigkeit, in sozialen Situationen adäquat zu reagieren, scheint uns verloren gegangen zu sein.

Auch der soziale Aspekt unserer Identität, wie wir von anderen gesehen werden, verändert sich: Überall hören wir Bemerkungen aus der eigenen Familie und von Freunden, die unsere Kompetenz als Eltern infrage stellen. Sie ziehen sich zurück von uns. Psychiater und Sozialarbeiter können das Gefühl, als Mutter oder Vater nicht mehr ausreichend kompetent zu sein, noch verstärken.

Auch unsere Glaubenssätze können ins Wanken geraten: Wenn wir bislang geglaubt haben, dass in ordentlichen Familien, in denen die Eltern gut für ihre Kinder sorgen, solche Krankheiten nicht vorkommen können, dann müssen wir uns plötzlich fragen, ob wir nicht auch zu diesen nicht ordentlichen Familien gehören?

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Wir werden mit unseren Ängsten und Selbstzweifeln alleingelassen. Jetzt denken wir an die Zukunft unseres Kindes. Wie soll es weitergehen? Wir möchten von Psychiatern hören, welche Therapien noch möglich sind, welche Heilungschancen sie für unser Kind sehen. Wie sollen wir uns gegenüber dem erkrankten Kind verhalten? Aber Psychiater sprechen selten mit uns, unsere Fragen bleiben unbeantwortet. Gespräche werden uns mit dem Hinweis auf die Schweigepflicht oder auf ihre große Arbeitsbelastung verweigert. Wenn wir aber doch einmal Gelegenheit zu einem Gespräch mit Fachleuten erhalten, werden uns oft zunächst unsere Unzulänglichkeiten vor Augen geführt. Ich war sowohl über- als auch unterfordernd, was natürlich ganz schlecht für meine Tochter war – vielleicht sogar die Ursache für ihre Erkrankung? Eine andere Mutter hörte, sie sei völlig überfordert und viel zu labil für ihr Kind – sie hatte unvorsichtigerweise geweint im Gespräch mit der Fachfrau. Wenn das Kind keine Krankheitseinsicht zeigt, dann wird uns gesagt, den Fachleuten seien die Hände gebunden. „Ihr Kind muss erst einmal in der Gosse landen. Wenn keine Krankheitseinsicht da ist, können wir nichts tun.“ Einen Rat oder eine Hilfe für uns oder für unser Kind bekommen wir nicht. Auch diese Erlebnisse wirken nach. Wir werden wütend oder fühlen uns hilflos und alleingelassen mit den schwierigen Verhaltensweisen unserer Kinder.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Die mangelnde fachliche Unterstützung ist nicht nur schlimm, weil wir weiterhin alleingelassen werden mit unserer Unsicherheit. Es verhindert auch, dass unser Erleben in eine andere Perspektive gerückt werden kann. Wir reagieren oft zu emotional. Wir sehen um unser Kind herum nur Gefahren. Wir können nicht schlafen, weil wir unser Kind einen Tag lang nicht erreichen können. Wir vermuten Schlimmstes. Wir machen uns Tag und Nacht Sorgen, weil wir ständig befürchten, dass unser Kind etwas Furchtbares tut oder zum Opfer von bösartigen Menschen wird. Oft wissen wir nicht einmal, was das Schlimmste oder das Furchtbare sein kann, aber die Angst ist tief in uns. Wenn wir unser Kind einmal in einer Krise erlebt haben, dann kann das unser Empfinden und unsere Gedanken nachhaltig beeindrucken.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Dabei wären zugewandte, aber sachliche Gespräche mit Fachleuten für uns so wichtig: Sie könnten uns befreien von unserer ständigen Angst. Sie könnten uns helfen, die Erkrankung und ihre Auswirkungen besser zu verstehen. Wir könnten dann aggressive Äußerungen verstehen, als das, was sie sind: Ein Kontrollverlust bei unserem Kind, das sich gerade über etwas geärgert hat, das vielleicht nichts mit uns zu tun hat. Wie oft höre ich von Angehörigen, dass sie glauben, ihr Kind hasse sie. Es mag schwierige Eltern-Kind-Konstellationen geben, in denen das zutrifft. Aber in den meisten Fällen können unsere erkrankten Kinder ihre Bedürfnisse nicht immer sozial adäquat ausdrücken. Es reicht schon, dass man die geforderten zwanzig Euro nicht gibt oder sich weigert, das Kind mit dem Auto nachhause zu fahren, obwohl es mit dem Bus nur zehn Minuten dauert. Die Frustrationstoleranz unserer Kinder ist so gering, dass eine derartige Kleinigkeit schon ausreicht, um einen wütenden Ausbruch hervorzurufen. Oft haben sie das nach einigen Stunden oder am nächsten Tag schon wieder vergessen. Wir fragen uns aber immer noch besorgt, was wir getan haben, um so einen Ausbruch hervorzurufen. Fachleute könnten uns helfen, diese Aufgeregtheiten zu verringern. Sie könnten uns sagen, in welchen Situationen wirklich Gefahren entstehen könnten und wann wir den Dingen einfach ihren Lauf lassen sollten. Sie könnten uns auch helfen zu verstehen, wie manche Bemerkungen eines aufgeregten Manikers einzuordnen sind. Sie könnten dazu beitragen, dass wir gelassener werden und uns nicht in jede Emotion unseres Kindes hineinziehen lassen. Sie könnten uns auch zu verstehen geben, dass wir unseren Kindern viel mehr zutrauen sollten, als wir es tun.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Durch das Mit-Erleben gerät unsere Identität in Bewegung. Im Laufe unseres Lebens haben wir eine Identität ausgeprägt, die etwas darüber aussagt, wer ich bin. Sie sagt auch etwas darüber aus, wie ich mich sehe, für welchen Menschen ich mich halte, welchen Aufgaben ich mich gerüstet fühle. Aber meine Identität hat auch eine soziale Komponente: Auch wie andere Menschen mich sehen oder was sie von mir erwarten, geht in meine Identität oder mein Selbstbild ein. Je stabiler mein Selbstbild ist, desto besser fühle ich mich gewappnet, auch mit schwierigen Aufgaben fertig zu werden, die sich uns im Leben stellen. Unser Selbstbild wird aber auch davon geprägt, was andere Menschen von uns denken.

Unsre Identität ist im Verlauf unseres Lebens Bewegung und Veränderungen unterworfen. Das Erlebnis der psychischen Erkrankung eines Kindes und unsere Hilflosigkeit, etwas dagegen zu tun, kann unsere Identität nachhaltig erschüttern. Wir verändern uns. Wenn wir uns bislang sicher waren, eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein, dann gerät diese Sicherheit ins Wanken. Auch unsere Sicherheit in sozialen Beziehungen kann sich verändern: Die Familie distanziert sich, Freunde entfernen sich im Lauf der Zeit. Nun beginnen wir auch noch an unserer sozialen Kompetenz zu zweifeln.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Aus der Erschütterung durch das Mit-Erleben kann allmählich ein Mit-Leiden werden. Wir leiden mit unseren Kindern. Wir halten sie aufgrund ihrer psychischen Erkrankung für hilflos. Wir bedauern sie für ihr schweres Schicksal, gegen das sie nichts tun können. Sie sind der Krankheit hilflos ausgeliefert, denken wir. Wir leiden mit unseren Kindern. Aber aus dem Mit-Leiden kann auch Selbstmitleid entstehen. Wir fragen uns, warum ausgerechnet uns das passieren musste. Haben wir etwas falsch gemacht? Müssen wir Schuldgefühle haben? Wir sehen uns als Opfer einer stigmatisierenden Gesellschaft und empathielosen Psychiatern. Auch unsere Beziehungen zu anderen Menschen können beeinträchtig werden. Wir fragen uns, was sie über uns denken werden. Wir schämen uns.

Aber weder Mit-Leiden noch Selbstmitleid hilft uns oder unseren Kindern. „Wahnsinn ist ansteckend“, sagt der amerikanische Psychotherapeut Frank Farrelly[1]. Wir lassen uns in die Emotionen unserer Kinder hineinziehen. Wir weinen, wenn sie weinen, werden aufgeregt, wenn sie aufgeregt sind, streiten uns mit ihnen, wenn uns ihre verbalen Aggressionen zu viel werden. Wir machen uns Sorgen wegen der Zukunft unsere Kinder. Wir sind vierundzwanzig Stunden am Tag mit unserem erkrankten Kind und unserem schweren Schicksal beschäftigt. Aber das Mit-Leiden macht uns und unsere Kinder hilflos.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Sind unsere Kinder hilflos? Eine psychische Erkrankung kann eine schwere Einschränkung sein, aber sie macht Betroffene nicht vollkommen hilflos. Unsere Kinder sind vor allem dann hilflos, wenn wir das von ihnen glauben. Mit unserem Mit-Leiden können wir dazu beitragen, dass sie sich hilflos fühlen. Wenn wir ihnen nichts zutrauen, ihnen keine Verantwortung für ihr Leben zugestehen oder sie von ihnen fordern, dann macht sie das hilflos. Wer keine Herausforderungen in seinem Leben bewältigt, kann auch kein Selbstvertrauen entwickeln. Frank Farrelly geht noch weiter. Er sagt, dass Erkrankte durchaus begreifen können, welche Vorteile ihnen durch ihre Hilflosigkeit erwachsen. Sie sind krank, aber nicht dumm. Und sie nutzen das. Wir nehmen ihnen nichts übel. Sie können verbal aggressiv werden, Schulden machen, im gemeinsamen Haushalt keine Arbeit übernehmen, nachts laut werden, jederzeit ohne Ankündigung zu uns kommen und uns zu jeder Uhrzeit anrufen. Wir glauben, dass wir uns nicht über sie ärgern ihnen schon gar keine Grenzen setzen dürfen. Sie sind doch krank!

Allmählich fordern wir nichts mehr von ihnen, sondern tun alles für sie. Sie können doch nicht allein leben, höre ich oft. Er kann sich nicht selbst versorgen, er würde verhungern, wenn ich ihm kein Essen bringe, sagen manche Mütter. Sie ist doch so allein, hat keine Freunde, da muss ich doch für sie da sein. Wir tun auch dann noch etwas für sie, wenn wir selbst völlig überfordert und erschöpft sind. Das tun wir umso mehr, wenn wir erleben, dass unsere Kinder mit verbalen Aggressionen oder Kontaktabbruch reagieren, wenn wir Grenzen setzen.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Weil wir keine Hilfe von der Außenwelt erhalten, beginnen wir, das zu tun, was wir für das Richtige halten: Wir managen und kontrollieren das Leben unseres erkrankten Kindes, vergessen dabei aber unsere Kinder zu fragen, ob sie diese Hilfe auch wollen. Weil wir sie als hilflose Menschen sehen, müssen wir sie auch nicht fragen. Wir wissen besser, was für sie gut ist. Wir kümmern uns immer weniger um unser eigenes Leben, sondern alles ist darauf ausgerichtet, das erkrankte Kind zu unterstützen.

Unentwegt suchen wir nach Lösungen, mit denen endgültig alles wieder gut wird. Vielleicht wäre dieser Ausbildungsgang für unser Kind das Richtige? Oder diese therapeutische Wohngemeinschaft, von der wir so viel Positives gehört haben? Wir suchen nach dem richtigen Krankenhaus oder dem richtigen Therapeuten. Wir besuchen Tagungen, auf denen immer wieder großartige Projekte vorgestellt werden. Wäre das nicht etwas für unser Kind? Oft erleben wir dann am nächsten Tag, dass unser Kind nicht die Voraussetzungen für dieses großartige Projekt erfüllt. Wir suchen weiter. Es muss doch etwas geben, das unserem Kind hilft, damit diese Erkrankung endgültig besiegt wird.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Mit-Leiden und Selbstmitleid machen unsere Kinder nicht stark. Aber wenn wir mit unseren Kindern leiden, dann helfen wir ihnen nicht. Im Gegenteil, wir können die negativen Gefühle der Erkrankten sogar noch verstärken. Oft haben psychisch Erkrankte feine Antennen für die Gefühle ihres Gegenübers. Unser Mit-Leiden spiegelt ihnen, dass sie bedauernswert sind und sich in ihrem Leben nichts zum Besseren wenden kann. Unsere ständigen Aktivitäten zeigen ihnen, dass wir sie für inkompetent halten, ihr Leben selbst zu gestalten. Wer vom Mit-Erleben beim Mit-Leiden stehen bleibt, tut sich selbst und dem erkrankten Kind nichts Gutes, sondern macht sich und das Kind handlungsunfähig.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Wahnsinn muss nicht anstecken! Mit-Erleben kann uns erschüttern, unser Weltbild verändern und unsere Wahrnehmung von uns selbst. Aber wir sind den Schwierigkeiten, die wir mit-erleben, nicht hilflos ausgeliefert. Wir können entscheiden, wie wir damit umgehen. Wir sollten uns in die verwirrten und extremen Gefühle unsere Kinder nicht hineinziehen lassen. Wir können lernen, wenn wir das wollen. Wir sollten auch nicht dabei stehen bleiben, uns zu wünschen, dass alles besser wird. Stattdessen könnten wir uns rational damit auseinandersetzen, was möglich ist. Wenn unser Gegenüber seinen Emotionen ausgeliefert ist, dann ist es unsere Aufgabe, dem Rationalität und Klarheit entgegenzusetzen. Je ruhiger wir bleiben, desto besser ist es für den Betroffenen. Je klarer wir in unseren Botschaften sind, desto mehr helfen wir dem Erkrankten, auch wieder zur Ruhe zu finden.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Psychisch erkrankte Kinder brauchen ein starkes Gegenüber. Natürlich haben wir Mitgefühl, natürlich sehen wir, dass unser Kind schwierigen Situationen ausgesetzt ist, selbst oft verzweifelt ist. Aber Mitgefühl ist kein Mitleid. Mitleid haben wir mit hilflosen Menschen, Mitleid kann etwas Herablassendes haben. Unsere Kinder sind aber nicht nur hilflos. Wenn wir glauben, dass wir ihnen nichts zutrauen können, dann überträgt sich dieser Glauben auch auf sie selbst. Unsere Kinder sind krank, aber nicht dumm. Sie begreifen nach einer Weile, welche Register sie ziehen müssen, um uns dazu zu bringen, genau das zu tun, was sie wollen.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Vom Mit-Erleben zum liebevollen und gelassenen Begleiten. Unsere Kinder lernen in der Psychoedukation, wie wichtig es ist, die eigene Erkrankung zu verstehen. Welche Frühwarnzeichen gibt es, worauf sollte ich achten? Das stärkt ihr Selbstvertrauen. Sie sollen auch lernen, nicht bei jedem Scheitern aufzugeben. Scheitern ist kein Makel. Psychisch Erkrankte dürfen ebenso scheitern, wie es psychisch stabile Menschen tun. Im Gegenteil, aus dem Scheitern können sie lernen. Sie lernen, was sie sich zutrauen können oder ob der Schritt vielleicht zu früh kam oder in die falsche Richtung ging.

Die psychische Krankheit kann Menschen viel Selbstbewusstsein nehmen. Es ist daher nicht immer einfach für psychisch Erkrankte, darauf zu vertrauen, dass etwas möglicherweise nicht beim ersten Schritt klappt, aber vielleicht beim zweiten oder dritten Schritt. Dafür braucht man Selbstvertrauen. Unsere Aufgabe sollte es sein, unsere Kinder dabei zu unterstützen, so viel Selbstbewusstsein wie möglich zu entwickeln. Dazu müssen wir uns von unseren Sorgen lösen und ebenfalls die Krankheiten verstehen. Wir müssen wissen, was bei einer Psychose geschehen kann oder wie sich ein Mensch in einer Manie verändern kann. Verständnis führt bei uns zu weniger Angst. Verständnis führt auch dazu, dass wir zu einer realistischen Einschätzung von den Herausforderungen kommen, die mit einem bestimmten Krankheitsbild verbunden sein können. Wir können verstehen, welche unserer Verhaltensweisen eine Krise eher verstärken kann und welche dazu beitragen können, dass die Krise nicht ausbricht oder sanfter verläuft. Wir können unsere Einstellungen verändern – nein, eine psychische Krankheit ist keine Katastrophe, sondern eine Herausforderung für die Betroffenen und für uns. Wir müssen unseren Kindern eigene Entscheidungen zubilligen, ganz unabhängig davon, ob wir diese Entscheidungen gut finden. Sie sind krank, aber erwachsene Menschen. Wie sollen sie herausfinden, was sie können und welche Hürden zu hoch für sie sind? Wir sollten uns für unsere Kinder freuen, wenn sie ein Leben führen können, dass für sie gut ist, auch wenn wir uns etwas anderes für sie gewünscht haben.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Lernen, mit Unsicherheit umzugehen. Um unsere Kinder nicht mit unseren Ängsten zu belasten, müssen wir lernen, mit Unsicherheit umzugehen und mehr Risikobereitschaft zu entwickeln. Ja, es kann Angst machen, wenn mein psychisch erkrankter, aber erwachsener Sohn mit Freunden für drei Wochen auf die Azoren fliegen möchte. Aber haben wir das Recht, zu fordern, dass unsere Kinder sich nach unseren Ängsten und Sorgen richten? Wir können Schadensbegrenzung betreiben: Herausfinden, wo es auf den Azoren ein psychiatrisches Krankenhaus gibt oder einen niedergelassenen Psychiater, der Englisch spricht. Wir können ihm empfehlen, ein in Englisch verfasstes Attest mitzunehmen, in dem steht, welche Medikamente er nehmen muss. Damit verhindern wir, dass er vielleicht an der Grenze wegen des Verdachts auf Drogen festgenommen wird. Wir können ihm ausreichend Geld mitgeben und ihm versichern, dass er uns jederzeit anrufen kann und wir ihm dann helfen werden. Und: dass wir dann nicht anfangen uns aufzuregen, in Tränen ausbrechen und ihm sagen, dass wir es doch gleich gewusst haben. Es ist doch schön, dass er Freunde hat, mit denen er etwas unternehmen kann.

Mein Rat an Angehörige: Vom Mit-Leiden zum gelassenen Begleiten

Werden Sie ein lernendes System. Im letzten Jahrhundert wurden psychisch erkrankte Menschen oft lebenslang in Asyle gesperrt. Vielleicht hatten die Angehörigen dann keine Sorgen mehr, weil sie immer wussten, wo ihr Kind sich aufhält. Aber wollen wir das für unsere Kinder? Sicher nicht. Es verlangt von uns Stärke und Vertrauen in uns selbst, wenn wir unsere Kinder dabei unterstützen, Wege in die Welt für sich zu finden, auch wenn diese manchmal gefährlich sein können. Es ist eine große Entwicklungsaufgabe für uns, nicht in Mitleid und Selbstmitleid zu versinken oder sich in eine Depression hineinziehen zu lassen. Aber wir können das schaffen. Wir können das ebenso schaffen, wie unsere Kinder das schaffen können. Und dabei sollten wir sie unterstützen.

Das können wir vor allem dann, wenn unser Mit-Erleben bei uns nicht mehr zu Aufregung, Tränen, Verzweiflung oder sogar Wut führt. Wenn wir kein Mitleid, sondern Mitgefühl für unser Kinder entwickeln. Wenn wir ihnen mit unseren Sorgen und Ängsten nicht immer zeigen, dass wir ihnen nichts zutrauen. Wir helfen unseren Kindern, wenn wir sie gelassen auf ihrem Weg mit der Erkrankung oder auch aus der Erkrankung heraus begleiten. Wenn wir nicht bei jeder neuen Krise verzweifeln, weil wir doch gehofft hatten, dass nun endlich alles gut ist. Es kann alles gut werden, aber die Erkrankung ist nicht verschwunden. Unsere Kinder wissen das und müssen lernen, sich darauf einzustellen. Das ist auch für sie eine gewaltige Entwicklungsaufgabe.

Es hat auch bei mir Jahre gedauert, bis ich mich von Tränen, Verzweiflung, Wut oder Selbstmitleid lösen konnte. Heute weiß ich, was passieren kann und wie ich damit umgehen sollte. Wenn meine Tochter das kann, dann sollte ich das auch können. Wir sind ein lernendes System.

„Ich trage die Erkrankung immer in mir“, sagt meine Tochter. „Es geht mir jetzt seit mehr als zehn Jahren gut, aber ich weiß, dass es immer wieder zu einer neuen Krise kommen kann. Aber auch wenn sie kommt, ist das keine Katastrophe. Wenn sie kommt, dann bitte ich Dich frühzeitig, mich in meine Lieblingsklinik zu bringen. Dort bleibe ich vielleicht ein paar Wochen und dann geht es mir wieder gut. Das weiß ich. Eine Manie oder eine Psychose sind kein Drama. 

[1] Frank Farrelly: Provokative Therapie, 2005

 

Zum Ausdrucken:

J. Berg-Peer-TEXT-Mit-Erleben.docx

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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