Janine Berg-Peer/ September 26, 2023/ Alle Artikel, Angehörige, Empfehlungen, Kritisches/ 0Kommentare

Plädoyer für Offenheit: Psychisch Erkrankungen nicht verschweigen!

Die Frage, ob wir im Jahr 2022 immer noch darüber nachdenken müssen, ob wir uns zu einer psychischen Erkrankung bekennen (!) oder sie besser verschweigen sollten, zeigt, wie sehr psychische Erkrankungen immer noch stigmatisiert werden. Hinter der Frage liegt die Annahme, dass es immer noch ein Risiko sein könnte, offen darüber zu reden. Für uns Angehörige gilt dieses Risiko in doppelter Hinsicht. Wir müssen nicht nur darüber nachdenken, ob Offenheit unseren betroffenen Angehörigen schadet. Wir müssen uns auch fragen, wie wir mit der auch Stigmatisierung umgehen, die Familien, aber vor allem uns Mütter trifft.
Ich kann daher gut verstehen, dass manche Angehörige nicht den Mut aufbringen, offen über die Krankheit zu sprechen. Sie fürchten Vorwürfe, Ablehnung oder wissende Blicke, wenn die Verwandtschaft oder die Nachbarschaft sich trifft. Daher vermeiden sie es, über die Erkrankung in der Familie zu reden, melden sich mit falschem Namen zu Wort oder sind in Videos nur als Schatten zu sehen. Oft sagen sie, sie wollen ihr Kind schützen, aber ich bin skeptisch. Ich fürchte, sie wollen auch sich selbst schützen.

Pathologisierung von Familien

Woher kommt diese Angst vor der Ausgrenzung? Angehörige machen die Erfahrung, dass sie von vielen Psychiatern und Psychiaterinnen, Psychotherapeuten und Psychotherapeuten schon bei den ersten Kontakten stigmatisiert werden. Implizit oder oft auch explizit wird uns die Schuld für die Erkrankung unserer Kinder zugeschoben. Unser Verhalten in der Kindheit war schädlich: Immer berufstätig, immer zuhause, zu hohe Ansprüche, zu wenig Ansprüche, alles gar nicht gut für ein vulnerables Kind.  Am schlimmsten ist natürlich eine Scheidung. Oder die Ursachen für die Krankheit des Kindes liegen in unseren Persönlichkeitsmerkmalen. Wenn wir nach der Diagnose „psychisch krank“ in Tränen ausbrechen, sind wir labil. Wenn wir uns beherrschen, sind wir gefühlskalt – Eisschrankmütter -, wenn wir uns um Hilfe für unser Kind bemühen, sind wir overprotective.

Plädoyer für Offenheit: Psychisch Erkrankungen nicht verschweigen!

Vereinzelung der Angehörigen
Das kann dazu führen, dass Angehörige sich von ihrem Umfeld zurückziehen und jahrelang ausschließlich den Kontakt zu anderen Angehörigen suchen. Das ist verständlich, aber nicht immer hilfreich. Ich bedaure diesen Rückzug, weil sie damit keine neuen Erfahrungen machen können. Aber nicht alle Menschen stigmatisieren und diskriminieren Familien von psychisch Erkrankten. Wir können auch positive Erfahrungen machen, wenn wir offen über unsere Situation reden. Viele erzählen von eigenen Erfahrungen und wir können dann feststellen, dass psychische Erkrankungen gar nicht so selten sind, wie wir glauben. Manche haben auch nützliche Hinweise oder bieten sogar praktische Hilfe an. Ein Wort an Fachleute: Welcher Glaubensrichtung auch immer Fachleute über die Ursachen psychischer Erkrankungen anhängen oder wie wenig ihnen die Mutter, die vor ihnen sitzt, gefällt: Glauben sie wirklich, dass Vorwürfe Eltern oder vor allem Mütter befähigen, ihre Kinder klug, gelassen und einfühlsam durch ihre Krisen zu begleiten, wie es nötig wäre? Oder sich gar mutig in der Öffentlichkeit zu der psychischen Erkrankung ihres Kindes zu bekennen? Ich bin der Psychiaterin Liselotte Mahler, die in Berlin als erste eine Soteria-Station aufgebaut hat, unendlich dankbar, weil sie sich jüngst in einem Vortrag deutlich gegen die Pathologisierung der Familie aussprach.

Auch Angehörige haben Vorurteile
Aber es ist nicht nur die befürchtete Stigmatisierung durch das Umfeld, die manche Angehörigen die Krankheit eines Kindes verbergen lassen. Wenn psychisch Erkrankte gesellschaftlich stigmatisiert werden, dann sind Angehörige als Teil der Gesellschaft auch nicht immer frei von Vorurteilen. Wer lange Zeit glaubte, dass diese Krankheiten nur in Familien vorkommen, in denen etwas nicht in Ordnung ist, wird sich schwer damit tun, plötzlich die Krankheit des eigenen Kindes mit dem Selbstbild als ordentliche Familie zusammenzubringen. Es kann die Angst entstehen, dass auch mit der eigenen Familie etwas nicht in Ordnung ist. Es gibt auch eine Hierarchie unter Angehörigen: Wenn angenommen wird, dass die Erkrankung unseres Kindes genetisch bedingt ist, dann trifft uns keine Schuld. Wenn aber Drogenkonsum als Ursache angenommen wird, dann verweist das wieder auf eine Familie, in der etwas nicht in Ordnung war.

Plädoyer für Offenheit: Psychisch Erkrankungen nicht verschweigen!

Vielleicht hat meine Unwissenheit mich geschützt
Ich selbst bin von Anfang an offen mit der Erkrankung meiner Tochter umgegangen. Vielleicht konnte ich das tun, weil ich vor 25 Jahren noch gar nicht wusste, dass wir Mütter immer noch häufig von Fachleuten, der eigenen Familie und der Öffentlichkeit für die psychische Erkrankung unserer Kinder verantwortlich gemacht werden. Ich kannte weder die schizophrenogene Mutter noch die Theorie der Betroffenen als Symptomträger dysfunktionaler Familien. Aber je mehr ich mit Fachleuten zu tun hatte, desto mehr begriff ich, dass die schizophrenogene Mutter bis heute noch sehr lebendig ist.

Mit meiner Offenheit habe ich unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Anders als ich erwartet hätte, wurde im beruflichen Kontext fast immer positiv reagiert. Viele Klienten berichteten von eigenen Erfahrungen mit psychischer Krankheit in der Familie. Viele Auftraggeber reagierten rücksichtsvoll auf plötzliche Krisen meiner Tochter. Nach meinem ersten Buch „Schizophrenie ist scheiße, Mama!“ wurde ich in der Apotheke, beim Schneider, vom Briefträger oder von Nachbarn darauf angesprochen und immer wurde mir erzählt, dass auch sie Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen in der Familie hatten. Alle diese Menschen freuten sich, offen über dieses Thema reden zu können. Es wird auch sicher viele Menschen geben, die negativ über mich denken, von denen ich es nie erfahre werde. Damit kann ich leben.
In meiner eigenen Familie oder bei Freundinnen gab es allerdings nicht nur positive Reaktionen. Es kam zu Rückzug, manche besuchten mich nicht, wenn meine Tochter anwesend war und von einer Hochzeit im Familienkreis wurde meine Tochter ausgeladen. Ich verstehe, dass es für Angehörige anderer sozialer Kontexte, in einer kleinen Stadt oder auf dem Land es vielleicht weniger einfach ist, negative Beurteilungen aus dem Umfeld zu ignorieren. Aber ich habe mich frühzeitig dafür entschieden, die Meinung anderer Menschen zu ignorieren und meine Tochter bestärkt, dies ebenfalls zu tun.

Warum Offenheit wichtig ist
Nach meiner anfänglichen Verstörung über die psychische Erkrankung habe mich damit beschäftigt, wie ich meine Tochter dabei unterstützen könne, auch mit der Krankheit ein gutes Leben zu führen. Dazu gehörte es auch, offen mit der Erkrankung umzugehen. In ihr sollte nicht das Gefühl entstehen, es gäbe etwas, das verschwiegen werden müsste. Ich wollte nicht, dass sie den Eindruck bekam, dass ich mich für sie schämte. Es gehörte auch dazu, dass ich mich gegen mögliche Schuldzuweisungen immunisierte.

Plädoyer für Offenheit: Psychisch Erkrankungen nicht verschweigen!

Was wir gegen Stigmatisierung tun können

  • Ich habe daher frühzeitig offen über die Krankheit gesprochen, Bücher dazu geschrieben und gleichzeitig meine Tochter ermutigt, ebenso offen mit ihrer Krankheit umzugehen. Schon seit Jahren reden wir beide auf Tagungen über unsere Erfahrungen, sie selbst nimmt teil an trialogischen Seminaren und wir schreiben gerade ein Buch über unsere gemeinsamen Erfahrungen.
  • Im Zug lege ich immer das Buch „Schizophrenie ist scheiße, Mama!“ auf den Tisch zwischen den Sitzplätzen. Es dauert nicht lang, bis eine Mitfahrerin vorsichtig auf das Buch deutet und fragt, ob sie es sich mal ansehen könne. Kurz danach beginnen die Menschen fast immer von eigenen Erfahrungen zu sprechen. Auch im Restaurant ist das möglich.
  • Ich gehe seit über zehn Jahren immer mit einer silbernen oder grünen Schleife an meinen Pullovern oder Kleidern aus dem Haus und trage stets das grüne Mental Health Awareness-Band am Arm. Auch hier können Nachfragen zu einer fruchtbaren Diskussion beitragen.
  • Wir können im Bekanntenkreis mutig auf diskriminierende Worte hinweisen und erklären, warum das für psychisch Erkrankte und für uns kränkend ist.
  • Jede von uns Angehörigen kann in ihrem Umfeld etwas dazu beitragen: In der Nachbarschaft, der Gewerkschaft, in der Kirche, der politischen Partei, im Kleingarten- oder Sportverein und vor allem auch bei der Arbeit können wir dieses Thema ansprechen.

 Wer das schwierig findet, wem es peinlich ist, der sollte sich vor Augen halten, dass wir Angehörigen zwar die Erkrankung verschweigen können, dass aber die Betroffenen ein Leben lang damit umgehen müssen, dass jemand von der Erkrankung weiß, dass Menschen sich an ihr schwieriges Verhalten in Krisenzeiten erinnern oder dass sie befürchten müssen, dass etwa der Arbeitgeber herausfindet, dass er oder sie an einer psychischen Erkrankung leiden. Das ist auch schwierig.

Ich bin überzeugt davon, dass meine Tochter und ich mit unseren Vorträgen, Artikeln und Büchern einen, wenn auch noch so kleinen, Beitrag zur Verringerung der Stigmatisierung leisten. Wenn Menschen meine Tochter erleben und feststellen, dass sie eine ganz normale junge Frau ist, dann kann das die Angst vor psychisch Erkrankten verringern. Auch ich als Angehörige kann durch meine Offenheit ein wenig zeigen, dass psychische Krankheiten in ganz normalen Familien vorkommen können. Vor allem aber können wir zeigen, dass eine psychische Erkrankung zwar mit viel Leid verbunden sein kann, dass sie aber keine Katastrophe sein muss. Auch mit einer psychischen Erkrankung ist ein gutes Leben möglich.

Ich halte das für wichtig. Wenn wir selbst nicht offen über die psychische Erkrankung reden und uns zeigen, dann entstehen Bilder und verfestigen sich in den Köpfen vieler Menschen, die wir nicht beeinflussen können. Wenn wir aber offen darüber reden, kann es gelingen, das Narrativ über psychisch Erkrankte und ihre Familien selbst zu bestimmen.

Bis zum nächsten Mal!

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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