Janine Berg-Peer/ August 7, 2023/ Alle Artikel, Angehörige, Empfehlungen, Kritisches/ 0Kommentare

Die Situation für uns Angehörige hat sich kaum gebessert!

Viele Angehörige rufen mich an, weil sie Rat wegen ihrer erkrankten Kinder brauchen. Sie sind verzweifelt, weil sich keine Besserung abzeichnet, weil das Kind nicht ins Krankenhaus oder keine Medikamente nehmen will. Oder weil die Medikamente nichts verbessern, sondern eher dazu führen, dass es ihrem Kind noch schlechter geht. Ein immer wiederkehrendes Thema ist die ständige Beanspruchung der Eltern. Zu jeder Tag- und Nachtzeit müssen sie bereit sein für Anrufe, Gespräche, Fahrten oder andere Dienstleistungen. Eines der größten Probleme ist die ständige Angst um das Kind. Die Sorge, dass etwas passieren könnte, das Kind sich etwas antun könnte, eine fristlose Kündigung der Wohnung ansteht, weil die Nachbarn sich beschweren.

Hinzu kommen die ständigen finanziellen Sorgen. Das Kind hat vor allem zu Beginn kein eigenes Einkommen, die Eltern müssen einspringen. Das Kind vergisst, Miete oder Strom zu zahlen oder, vor allem in manischen Phasen, gibt mehr Geld aus, als es hat.  Oft sogar  richtig viel, wenn Verträge unterschrieben werden, die dann nachher nicht bezahlt werden können. In der Wohnung stapeln sich ungeöffnete Briefe, so dass auch Mahnungen nicht beachtet werden. Zahllose Mahnungen von Inkasso-Unternehmen flattern ins haus – etwas, vor dem ich immer besonders Angst hatte. Ich sah schon üble Typen bei meiner Tochter klingeln und sie unfreundlich auffordern, nun endlich zu zahlen. Miete und Strom kann mann also Mutter nachzahlen, aber ganz schlimm ist es, wenn schon monatelang die Krankenversicherung nicht gezahlt wurde, was dann für das betroffenen Kind die Hilfe beim Arzt oder im Krankenhaus erschweren könnte.

Die Situation für uns Angehörige hat sich kaum gebessert!

Alles das erlebte ich vor 27 Jahren. Niemand hatte mir irgendetwas dazu erklärt, niemand hat mich vorgewarnt, dass Medikamente sehr unangenehme Nebenwirkungen haben und bestimmte Symptome auftreten könnten und vor allem, wie ich mich darauf vorbereiten könnte und meine Tochter beschützen und unterstützen könne. 27 Jahre! Viel Zeit, um etwas für die Situation von Angehörigen psychisch Erkrankter zu verbessern!
Aber warum kommen dann viele Angehörige, deren Kinder vor kurzer Zeit erkrankt sind, immer noch mit diesen Fragen zu mir – oder sicher auch zu anderen Beratungsstellen, wie den Angehörigenverbänden oder den Sozialpsychiatrischen Diensten? Warum gibt es immer noch keine flächendeckende aufsuchende Hilfe, keine Hilfe am Wochenende oder nachts in akuten Krisensituationen?

Die Angehörigenverbände haben in dieser Zeit viel geleistet: Sie bieten heute Beratung an, auch eine telefonische Beratung – SeeleFon -, Seminare und Schulungen für Angehörige. Sie setzen  sich auch politisch für eine bessere Versorgung ein, nehmen teil an Besuchskommissionen in Krankenhäusern, laden Fachleute zur Vorträgen ein oder organisieren Tagungen zu Themen, die für Angehörige interessant sind. Das alles sind wichtige Hilfen, aber reichen sie aus?

Als ich die ersten Mal verzweifelt beim Sozialpsychiatrischen Dienst erschien und um Hilfe oder gar einen Besuch bei meiner Tochter bat, wurde ich schroff abgefertigt, ich könne nicht um Hilfe bitten, das müsse meine Tochter schon selbst tun. Das gleiche passierte bei Trägern, bei denen ich um eine Soziotherapie für meine Tochter bat. Hätte der niedergelassene Arzt – ich danke ihm noch heute -, nicht die Soziotherapie selbst für meine Tochter organisiert, hätte sie diese Hilfe nicht bekommen. Bei anderen Angeboten hieß es meistens „Nein, Ihre Tochter ist in  der falschen Krankenkasse, die Bedingungen treffen auf sie nicht zu – es geht eben nicht!“
Ich dachte lange, dass sich das alles verbessert habe, weil man doch in der Presse, auf Tagungen und in Veröffentlichungen der Fachverbände immer wieder hört, welche großartige Unterstützung heute für Angehörige angeboten wird.
Seitdem ich Beratung für Angehörige und gemeinsam mit meiner Tochter mehrmals monatlich Online-Gesprächsgruppen für Angehörige anbiete, weiß ich, dass sich doch nicht so viel verbessert hat. Sie werden immer noch nicht von den Ärzten informiert – die Schweigepflicht! – , sie wissen oft nichts davon, was mit ihrem Kind im Krankenhaus passiert, die Ärzte sagen ihnen nicht, wie sie die Genesungschancen des Kindes einschätzen oder, auch ganz wichtig, erfahren nichts darüber, wie sie ihr Kind unterstützen können und was sie vielleicht besser nicht tun sollten.

Die Situation für uns Angehörige hat sich kaum gebessert!

Es macht mich traurig, wenn ich höre, dass Angehörige sich heute mit den gleichen Problemen beschäftigen müssen, wie ich es vor 27 Jahren musste. Der Schock über die Diagnose, die Angst vor einer psychischen Erkrankung, die Unsicherheit, was wir Eltern tun können, um unser Kinder zu unterstützen – alles immer noch gleich.
Auf der einen Seite kämpfen wir – meistens erfolglos – mit dem Schweigen der Psychiater*innen und auf der anderen Seite mit unseren Kindern, die sich oft weigern, therapeutische Hilfe anzunehmen, die es weit von sich weisen, erkrankt zu sein oder die uns beschimpfen und uns unter Druck setzen. Kein Wunder, dass auch heute noch viel Eltern sich für ihre Kinder aufopfern bis an die eigenen Belastungsgrenzen. Besonders belastend kann es werden, wenn die Betroffenen Kinder auch im Erwachsenenalter weiterhin bei den Eltern wohnen wollen und diese nicht mehr ihr eigenes Leben führen können. Täglicher Kampf um Lärm und Chaos, aber auch die ständige Angst, was mit dem Betroffenen passieren könnte: Obdachlosigkeit, Armut und Gewalt auf der Strasse – eine furchtbare Vorstellung.

Die Situation für uns Angehörige hat sich kaum gebessert!

So finden viele Angehörige keinen gangbaren Weg zwischen Unterstützung der Betroffenen und dem Wunsch, auch einmal ein eigenes Leben mit dem Lebenspartner zu führen, in dem auch die Bedürfnisse der Eltern nach Ruhe, Frieden und etwas Fröhlichkeit  vorkommen.
Wir wissen, dass wir Grenzen setzen müssen, aber das fällt so schwer, wenn wir gleichzeitig panische Angst davor haben, dass dem eigenen Kind etwas Schlimmes passiert, es sich vielleicht sogar suizidieren könnte.
Es tut mir so leid, wenn die Teilnehmerinnen an unseren Online-Gesprächsgruppen von ihren Ängsten und Kämpfen mit ihren erkannten Kindern berichten. „Mein moralischer Kompass sagt mir, dass ich meine Tochter doch immer unterstützen muss!“ sagt ein Vater, dem wir ansehen, dass er selbst aber physisch und psychisch nicht mehr kann. Wie kann er Grenzen ziehen, wenn die Tochter permanent mit Suizid droht?

Die Situation für uns Angehörige hat sich kaum gebessert!

Was ich mir wünsche? Psychiater*innen, die uns gleich zu Beginn darüber informieren, zu welchen Verhaltensweisen es bei unseren erkrankten Kindern kommen kann. Und vor allem, wie wir darauf reagieren sollten. Müssen wir jede Drohung ernst nehmen? Müssen wir jeden Wunsch erfüllen, weil das Kind doch krank ist? Müssen wir jeden Wunsch an ein eigenes Leben aufgeben, damit wir 24 Stunden lang für die Bedürfnisse unseres Kindes da sind?

Es wäre auch gut, wenn Genesungsbegleiter*innen frühzeitig auch für uns Angehörige zur Verfügung stehen würden. Wie sehr hätte es mir geholfen, wenn mit vor 27 Jahren eine Genesungsbegleiter*in gegenüber gesessen hätte und von ihrem Genesungsweg erzählt hätte! Wie gut wäre es für mich und für meine Tochter gewesen, wenn diese Genesungsbegleiterin mir gesagt hätte, welche meiner Verhaltensweisen nicht gut sind für mein erkranktes Kind und was ich stattdessen lieber tun solle.
We gut wäre es gewesen, wenn nicht erst zehn Jahre später, sondern gleich zu Beginn der Krankheit uns durch einen engagierten Psychiater eine ambulante Betreuerin empfohlen wurde. Sie hat uns Beiden über zehn Jahre lang wirklich geholfen durch ihre unerschrockene Unterstützung für meine Tochter. Ich kann ihr gar nicht genug danken.

Die Situation für uns Angehörige hat sich kaum gebessert!

Ich wünschte mir, dass Psychiater*innen auch ein wenig Mitgefühl für die Angehörigen hätten. Ja, selbst für Angehörige, die nicht immer alles richtig gemacht haben mit ihren Kindern. Wichtig ist es doch, dass sie künftig vieles besser machen können, wenn sie wüssten, was sie tun können. Wir sollten froh über alle Eltern sein, die sich auch nach einer psychiatrischen Diagnose noch um ihre Kinder kümmern. Es sollte uns zu denken  geben, dass nicht einmal 50% der Eltern sich um ihre erkrankten Kinder kümmern. Vielleicht auch, weil sie Angst vor der Psychiatrie haben, oder Angst davor, dass ihnen vorgeplante wird, dass sie etwas falsch gemacht haben? Aber es ist doch nicht das Wichtigste, was sie früher falsch gemacht haben, sondern es wäre vielleicht besser, wenn man ihnen jetzt helfen würde, etwas Positives für ihre Kinder zu tun?

Es gibt manches, das besser geworden ist für Betroffene und das ist gut. Aber es gibt kaum etwas, das besser geworden ist für uns Angehörige. Meine Tochter, die jetzt seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin arbeitet, und ich setzen uns witternd dafür ein, dass Angehörge mehr beachtet und mehr unterstützt werden. Nein, wir können nicht alle Probleme lösen und wir wissen sicher nicht für jede Situation die richtige Lösung. Aber wir können die Angehörigen immer wieder ermutigen, sich nicht nur durch ihre Gefühle – Sorgen, Ängste, Wut – leiten zu lassen, sondern auch rational an die Situation zu gehen.
Helfen Sorgen, Ängste und Wut? Eher nicht. Aber gut überlegte Verhaltensweisen können helfen. Wann ist Hilfe sinnvoll und willkommen, wann belastet oder entmündigt unsere schnell angebotene Hilfe die Betroffenen? Nein, wir wissen nicht alles besser. Ja, unsere Kinder haben das Recht, nicht krank sein zu wollen und auch keine Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen. Auch das müssen wir als Eltern ertragen, das würden wir ja auch bei psychisch stabilen Kindern tun. So schwer es fällt, es ist wichtig, dass wir konsequent bleiben und Grenzen setzen. Aber gleichzeitig sollten wir unseren erkrankten Kindern immer wieder zu verstehen geben, dass wir auch für sie da sind, wenn sie nicht das tun, was die Ärzte für richtig halten.

Das ist ein schwerer Weg, ich glaube der heute, dass es das ist, was letztlich unseren Kindern ein wenig helfen kann. Oder wie meine Tochter Henriette immer zu den Angehörigen sagt „Verlassen Sie Ihr Kind nicht. Es braucht sie, auch wenn es sich scheußlich Ihnen gegenüber verhält oder nicht auf sie hört.“ Stattdessen kann es helfen, wenn wir nicht unseren Kindern immer sagen, was es tun sollte, sondern wenn wir unseren Kindern zuhören und verstehen, warum es bestimmte Hilfen nicht möchte. Ich glaube, das einzige, was wir tun können ist, eine möglichst gut Beziehung zu unseren Kindern aufrechtzuerhalten. Und viel mit ihren rein, aber nicht über Krankheitseinsicht oder Medikamente. Sondern darüber, was sie beschäftigt, was ihnen Sorgen macht.

Die gute Beziehung zum erkrankten Kind zu erhalte oder neu zu finde, ist das best, was wir in dieser schwierigen Situation tun können. Nein, das ist nicht leicht. Aber für unsere Kinder ist es ja auch  nicht einfach, mit der Erkrankung fertig zu werden.

Bis bald, die Termine für unsere Online-Gruppen finden Sie auch hier auf unserem Blog. Jetzt haben wir eine Urlaubspause, der nächste Termin ist am 5. September, aber 18:00.

Janine Berg-Peer

 

 

 

 

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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