Janine Berg-Peer/ Februar 7, 2024/ Alle Artikel, Angehörige, Empfehlungen, EX-IN/ 0Kommentare

Angehörige psychisch Erkrankter: Wo kann mein Kind wohnen?

Seit über drei Jahren biete ich gemeinsam mit meiner Tochter Henriette Peer Online-Gruppen für Angehörige an. Sie werden immer noch von Vielen gern angenommen. Wir erfahren dadurch viel über die Belastungen und dringenden Fragen vieler Angehöriger. Leider merken wir, dass die Fragen immer noch die gleichen sind, die ich mir vor 28 Jahren nach der Diagnose meiner Tochter stellte. Trotz der engagierten Arbeit und den guten Beratungsangeboten vieler Landesverbände der Angehörigen psychisch Erkrankter scheint die Information und Beratung, und natürlich die Einbeziehung von Angehörigen immer noch nicht ausreichend zu sein.

Angehörige psychisch Erkrankter sind vielfältigen Belastungen ausgesetzt. Nach dem ersten Schock über die Diagnose und der Schwierigkeit, von Fachleuten praktische Hilfe zu erhalten, fühlen sich die meisten hilflos und voller Angst. Die häufigsten Fragen drehen sich darum, wie wir uns unseren Kindern gegenüber verhalten sollen. Müssen wir jedes Verhalten ertragen, weil sie krank sind? Oder sollen wir Grenzen setzen, wie uns von Fachleuten immer wieder gesagt wird? Leider wird uns in der Regel nicht dazu gesagt, wie man denn gegenüber dem eigenen Kind, auch wenn es äußerst schwierige Verhaltensweisen zeigt, Grenzen setzen kann Wie umgehen mit den Reaktionen der Betroffenen, die zwischen Rückzug, Wut oder Beschuldigungen variieren kann. Darf ich es? Darf es mir zu viel werden? Darf ich auf meine eigenen Belastungsgrenzen achten, darf ich Nein sagen, wenn das erkrankte Kind permanent Bedürfnisse anmeldet. Welche Art von Unterstützung ist hilfreich? Wann trägt zu viel Unterstützung vielleicht sogar dazu bei, die Selbstständigkeit des erkrankten Kindes zu beschränken?

Dann kommen ganz praktische Fragen hinzu. Wo finde ich eine gute Klinik? Woran erkenne ich überhaupt, dass eine Klinik gut ist? Soll ich alles glauben, was mir die Psychiater*innen erzählen? Wem soll ich glauben? Es gibt so viele Erklärungen für das Entstehen von psychischen Erkrankungen und die unterschiedlichen Fraktionen kämpfen oft erbittert gegeneinander. Ist es überhaupt wichtig für uns, wie die Krankheit entstanden ist? Ist es nicht vielleicht viel sinnvoller, sich auf die Situation heute zu konzentrieren und zu überlegen, wie ich mein Kind heute sinnvoll unterstützen kann?

Angehörige psychisch Erkrankter: Wo kann mein Kind wohnen?

Es ist nicht immer leicht, auf alle diese Fragen eine gute oder vor allem sinnvolle Antwort zu gegen. Vor allem, weil es sehr unterschiedliche Antworten geben kann, je nachdem, ob sie von Fachleuten kommt oder von Menschen, die noch nie etwas mit einer psychischen Erkrankung zu tun hatten, aber der Meinung sind, die richtigen Antworten zu haben. Auch die Betroffenen sehen vieles anders als wir und manchmal kommt es zu Beschuldigungen oder totalem Rückzug.
In den Gruppen machen die Angehörigen die Erfahrung, dass sie nicht die einzigen sind, die sich mit diesen Fragen beschäftigen müssen. Sie lernen voneinander, tauschen gute Hinweise aus, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten kann, aber auch über Krankenhäuser, Wohnprojekte oder gute Psychotherapeut*innen. Vor allem aber trösten und ermutigen sie sich aber auch gegenseitg.

Ein wichtiges Thema für die meisten Angehörigen ist immer die Wohnsituation der Betroffenen: Häufig wird von den Angehörigen gefragt, wo sie eine gute Wohnsituation für ihr Kind finden können. Das geht uns gar nichts an, sagen vielleicht manche Betroffene, eine Wohnung suchen wir uns schon selbst. Ja, wenn die Betroffenen in der Lage sind, sich selbst um eine Wohnung oder eine Wohngemeinschaft oder eine Wohnung im betreuten Wohnen zu kümmern, dann ist es nicht mehr unsere Sache. Im Gegenteil, wir sollten glücklich sein, dass unser krankes Kind über so viel alltagspraktische Fähigkeiten verfügt.

Angehörige psychisch Erkrankter: Wo kann mein Kind wohnen?

Aber es gibt Angehörige, deren Kinder nach einem Krankenhausaufenthalt nicht alleine wohnen wollen oder können. Wie finde ich gerade für junge Menschen eine gute Wohngruppe? Es ist unendlich schwierig, eine solche Wohngruppe zu finden und noch schwieriger, eine zu finden, in der auch ein Platz für mein Kind ist. Noch schlimmer, wenn uns aus der Wohngruppe gesagt wird, sie könnten unser Kind nicht aufnehmen, es sei zu schwierig oder zu krank. Was dann?

Eine der schwierigsten Fragen für uns Angehörige ist, ob wir unser krankes Kind wieder zuhause aufnehmen sollen. Wenn die Kinder es nicht wollen, dann können wir mit ihm gemeinsam auf die Suche nach einer geeigneten Wohnung gehen. Wenn das Kind aber auf gar keinen Fall ausziehen möchte, dann kann es zu sehr schwierigen Situationen im täglichen Zusammenleben führen. Nicht immer kann sich das erkrankte Kind so verhalten, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist. Es hält sich nicht an gemeinsame Regeln, unterstützt nicht im Haushalt, ist nachts laut oder verbal aggressiv gegenüber den anderen Familienmitgliedern. Aber das Wohlergehen der gesamten Familie ist wichtig. Wir können und sollten nicht das erkrankte Kind zum Zentrum unserer Gedanken, Zuneigung und Unterstützung machen. Auch Geschwister, Lebenspartner*innen oder Eltern haben ein Recht auf unsere Zuwendung.

Angehörige psychisch Erkrankter: Wo kann mein Kind wohnen?

Auch für unsere Kinder kann das Leben im Haushalt der Eltern negative Folgen haben: Zum einen ketten wir damit unsere Kinder an uns: Sie lernen nicht, selbstständig zu sein, sie erwerben keine alltagspraktischen Fähigkeiten. Auch die sozialen Kompetenzen werden kaum geübt, weil wir Angehörigen oft dem Erkrankten alles durchgehen lassen, uns ständig nach ihm richten. Er oder sie müssen nicht lernen, die Perspektive anderer Menschen zu erkennen und auch zu berücksichtigen. Ganz wichtig: Sie werden auch kaum selbstständig an andere Menschen heran gehen, um Bekannte oder Freunde zu finden. Sie haben ja uns: Wir bieten Anregung, Beschäftigung, Verpflegung, Wäsche und emotionale Unterstützung.

Aber diese Art von Rundumverpflegung ist für einen psychisch erkrankten Menschen nicht gut: Er wird abhängig von uns und nicht selbstständig. Wir sollten immer daran denken, dass es uns irgendwann nicht mehr gibt und dass es unsere wichtigste Aufgabe ist, unser Kind dabei zu unterstützen, möglichst selbstständig zu werden, so dass es auch nach unserem Tod weiter ein gutes Leben führen kann.
Dieses Zusammenleben hat noch ein weiteres Problem: Wenn andere Kinder da sind kann, dann kann das auch für Sie negative Folgen haben. Weil wir uns – verständlicherweise – vor allem um das „schwierige“ Kind kümmern, können sich die anderen Kinder alleingelassen fühlen. Ihre Probleme, ihre Schwierigkeiten in der Schule oder der Streit mit Freunden sind nie so wichtig wie etwa die psychotischen  oder depressiven Episoden des erkrankten Kindes. Darüber hinaus kann das Zusammenleben mit einem psychisch erkrankten Kind auch für uns Angehörige zu einer großen Herausforderung werden: Wir opfern uns auf, wir sind ständig belastet und in einem Alarmzustand und das kann dazu führen, dass wir selbst psychisch oder auch physisch krank werden.
Aber selbst wenn die Betroffene eine eigene Wohnung haben, hören die Sorgen der Angehörigen nicht auf: Oft wird über die Unordnung in der Wohnung geklagt, der totale Rückzug des Betroffenen in der Wohnung. Viele sorgen sich, weil die Betroffenen kaum etwas essen oder wenn, dann nur Junk Food. Unsere Meinung ist, dass die Unordnung in der Wohnung eigentlich nicht die Sache der Angehörigen ist. Unsere Kinder mögen krank sein, sie sind aber dennoch erwachsen. Wenn uns die Ernährung der Kinder beschäftigt, dann gibt es einfache Lösungen: Bringen Sie ein- bis zweimal die Woche zwei Tüten mit Grundnahrungsmitteln und Obst zur Wohnung, auch wenn er nicht aufmacht, dann stellen sie die Lebensmittel vor die Tür. Wenn darauf noch zwei Päckchen Tabak und zwanzig Euro liegen, dann werden die Tüten sicher in die Wohnung geholt, wenn wir nicht mehr da sind. Wenn wir keine Zeit dazu haben oder zu weite weg wohnen, dann gibt es diese wunderbaren Lieferdienste, die Sie zur Wohnung des Kindes schicken können. Dann ist es schon eine Sorge weniger.

Angehörige psychisch Erkrankter: Wo kann mein Kind wohnen?

Was also tun bei den vielen Sorgen, die wir uns um unsere Kinder machen? Es gibt keine

Patentlösungen für diese Situation, so wie es für eine psychische Erkrankung überhaupt keine „Lösung“ gibt. Gehen Sie pragmatisch vor: Fragen Sie, was Sie beeinflussen können und was nicht. Ihre Sorgen helfen nicht, belasten aber Sie selbst und auch Ihre Kinder, die sehr wohl begreifen, dass sie selbst die Ursache für ihre Sorgen sind und Schuldgefühle entwickeln können. Wichtig ist, dass wir selbst begreifen, dass weder unser Aufopfern, noch eine Rundumversorgung, noch permanente Ängste und Sorgen unserem Kind in irgendeiner Weise helfen. Es bleibt für uns eine ganz schwierige Balance zwischen Zuneigung und liebevoller Unterstützung und dem Setzen von Grenzen, wenn es erforderlich ist.

Aber das Wichtigste aus meiner und der Sicht meiner Tochter: Eine gute Beziehung zu unserem erkrankten Kind sollten wir immer aufrechterhalten, soweit das möglich ist. Auch in Zeiten des Rückzugs, der Vorwürfe, der ständigen überzogenen Forderungen sollten wir unsere Kinder nicht aufgeben. Sie brauchen uns, selbst wenn sie uns verbal ablehnen. Woran wir aber auch denken sollten: Eine gute Beziehung zu uns selbst ist ebenfalls extrem wichtig.Psychisch Erkrankte brauchen starke Eltern. Oder wie meine Tochter sagte: Es muss den Angehörigen gut gehen, denn traurige, erschöpfte, überforderte oder auch wütende Mütter und Väter können uns nicht unterstützen. Sie uns keinen Halt geben, gerade, wenn wir ihn so dringend brauchen.

Bis bald,
Janine Berg-Peer und Henriette Peer

Und hier auf allgemeinen Wunsch noch einmal zum Ausdrucken:


jbp+hp-wohnen-7.2.24-Angehörige psychisch.docx

 

 

P.S. Bitte immer mal wieder in die Termine schauen. Manchmal müssen wir sie ändern oder ausfallen lassen, wenn meine Tochter beruflich anderer Termine hat.

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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