Janine Berg-Peer/ August 14, 2014/ Alle Artikel, Angehörige/ 0Kommentare

clematis-blau-160-120Wir müssen unsere Geschichte erzählen

Pete Earley ist ein amerikanischer Journalist und Vater eines Sohns, der an Schizophrenie erkrankt ist. Er hat ein großartiges und berührendes Buch geschrieben „Crazy – A Father´s Search Through America´s Mental Health Madness – Verrückt – Die Suche eines Vaters durch den Wahnsinn des amerikanischen  psychiatrischen Systems“. Er beschreibt das, was Viele von uns kennen, nur dass es in USA alles noch schlimmer und wahnsinniger ist. Inzwischen setzet er sich für viele Ungerechtigkeiten im amerikanischen System ein. Er hat einen schönen Artikel über seinen Sohn geschrieben auf seiner Webseite, in dem der Sohn erklärt, warum er jetzt an die Öffentlichkeit geht mit seiner Geschichte „Wenn ihr Angst habt, eure Geschichte zu erzählen, dann gewinnt die Stigmatisierung!“ sagt er. Ich finde es großartig und richtig, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Meiner Tochter hat es nicht geschadet, dass ich ein Buch über unsere Geschichte geschrieben habe. Niemand hat sich von ihr oder mir abgewandt. Ich selbst habe nur positive und ermutigende Worte gehört.

Wir müssen unsere Geschichte erzählen

Warum ist – fast – niemand bereit, über seine Erfahrungen mit einer psychischen Erkrankung oder mit seiner Erfahrung als Angehörige zu reden? Menschen, die sich seit Jahren im Angehörigenverband betätigen, wollen keinesfalls damit an die Öffentlichkeit gehen. Mitglieder wollen nicht, dass sie einen Brief bekommen mit einem Stempel vom Angehörigenverband! Wir suchen eine Angehörige, die wir für einen Preis für pflegende Angehörige vorschlagen wollen – alle lehnen ab. Ich werde oft angefragt, ob ich jemand benennen kann, der als Angehöriger oder als Betroffener für eine Talkshow zur Verfügung stehen will. Ich finde niemanden. Als ich begann, mein Buch zu schreiben, habe mir viele Angehörige (!) abgeraten. das wäre doch schlimm für meine Tochter, so etwas würden sie nie tun. Als eine Angehörige ein mutiges und offenes Interviews über ihren Sohn gab, der seit Jahren drogenabhängig ist und an Psychosen leidet, wurde sie von vielen Angehörigen kritisiert, weil sie doch so etwas über ihren Sohn nicht schreiben dürfe.bernau-blumen-160-120

Wir müssen unsere Geschichte erzählen

Mit welchen Begründungen wird Öffentlichkeit oder ein Artikel abgelehnt? „Das schadet meiner Tochter oder meinem Sohn.“ „Meine Tochter würde sofort den Kontakt zu mir abbrechen, wenn ich das täte.“ „Es ist peinlich, wenn meine Freunde oder Nachbarn wissen, dass ich krank bin oder dass ich einen psychisch kranken Sohn habe.“ „Es ist doch furchtbar für meine Tochter, wenn andere Menschen wissen, wie sie sich in Krankheitsepisoden verhält!“

Schadet das wirklich? Ich habe die Erfahrung nicht gemacht. Ich glaube, im Gegenteil wie der Sohn von Pete Earley, dass wir dazu beitragen, dass Vorurteile und Stigmatisierung fortbestehen, wenn wir nicht nach außen gehen. Wenn die Öffentlichkeit besser informiert wird, wenn sie  unsere Kinder sehen und hören und merken, dass es sich um völlig normale Menschen handelt, die eben ab und zu krank sind, dann können Ängste und Vorurteile abgebaut werden. Wenn in der Öffentlichkeit nur der typische „gewalttägige Schizophrene“ in den Boulevardzeitungen auftaucht und wir keine Gegenöffentlichkeit schaffen, was soll sich denn jemals ändern? „Meine Tochter will das nicht!“ Für mich ist das kein Argument. Meine Tochter will Vieles nicht, aber muss ich mich immer danach richten? Wenn ich jahrelang alles für meine Tochter tue, dann kann sie mir nicht verbieten, über meine Erfahrungen zu berichten. Sollen wir uns von unseren Kindern erpressen lassen „Wenn Du das oder das tust oder nicht tust, dann breche ich den Kontakt zu Dir ab?“ Ich will mich nicht erpressen lassen, ich bin überzeugt davon, dass ich nichts – wissentlich – tue, was meiner Tochter schadet. Wenn wir über unsere Kinder berichten oder auch über unsere Nöte, dann tun wir das, damit es mehr Öffentlichkeit gibt, damit Menschen wissen, wie wenig Hilfe psychisch Kranke bekommen und wie sehr wie Eltern, vor allem wir Mütter, immer noch ausgegrenzt werden, obwohl wir einen Großteil der Last mittragen. Wir tun das, damit sie bessere Bedingungen haben.


verlobungsrosen-160-120Wir müssen unsere Geschichte erzählen

Ich habe manchmal eine ganz andere Befürchtung oder Vermutung: Viele Eltern schämen sich, wenn öffentlich bekannt wird, dass sie ein psychisch krankes Kind haben. Es ist ihnen ihretwegen peinlich, dass „so etwas“ an die Öffentlichkeit kommt. Sie befürchten, dass sie selbst schlecht angesehen werden. Es ist schlimm, wenn Eltern sich schämen (müssen). Ich weiß, dass es oft nicht einfach ist, wenn man sich zu Problemen in der Familie „bekennt“. Natürlich wird es immer Menschen geben, die dann schlecht über uns denken – na und? Es müssen nicht alle positiv über uns denken, es muss uns nicht immer wichtig sein, was andere von uns halten. Es kommt darauf an, dass wir Menschen haben, bei denen es uns wichtig ist, was sie von uns denken. Überlegen Sie, wie es unseren Kinder geht. Sie können sich in schwierigen Phasen nicht vor ihrer Krankheit verdecken, man sieht es ihnen an, man hört sie, wenn sie „verrückte“ Dinge von sich geben. Sie können das oft nicht verstecken. Dann sollten wir auch zu ihnen stehen. Heimlichkeit ist für jeden schlecht. Man hat ständig Angst davor, dass es „rauskommt“. Das ist eine große Belastung.

Es gibt überhaupt keinen Grund, sich für Schizophrenie zu schämen. Nicht für die Betroffenen und schon gar nicht für uns Eltern. Wer würde sich für Diabetes schämen? Gehen wir selbstbewusst damit um. Ja, meine Tochter hat die Diagnose Schizophrenie oder bipolar. Ja, das ist manchmal schwierig. Ja, manchmal verhält sie sich nicht schön. Na und? Das ist die Krankheit. Und wenn andere Menschen wissen, dass dies eine Krankheit ist, die nicht jeden gefährlich macht, die behandelt werden kann und die vor allem nur in Phasen auftritt, dann werden auch diese Menschen nicht mehr so viel Angst vor solchen Krankheiten haben. Gerade habe ich meinen Geburtstag gefeiert mit Freunden und meiner Tochter. Eine Freundin, die sich gut mit ihr unterhalten hatte, sagte anschließend „Niemals würde man denken, dass diese junge Frau jemals krank war.“ Und diese Freundin, die wenig Kontakt zu psychischen Krankheiten hat, wird jetzt ein wenig anders darüber denken. Gehen wir nach außen, auch wenn unsere Kinder das nicht wollen. Sie wollen das nicht, weil sie sich schämen. Es tut mir weh, wenn ich denke, dass meine Tochter sich wegen ihrer unverschuldeten Krankheit schämt. Und deshalb gehe ich nach Außen, damit sie sieht, dass ich mich nicht schäme Warum auch?büchertisch-heymann-160-120

Ich freue mich, wenn Angehörige oder Betroffene, die meinen Blog lesen, bereit wären zu einem Interview oder einer Fernsehsendung oder einem Bericht auf einer Tagung. Ich werde inzwischen oft angefragt. Ich würde das dann gern weitergeben. Haben Sie Mut, sie helfen Ihren Kindern damit.

Bis bald, Janine Berg-Peer

 

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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