Janine Berg-Peer/ Juni 28, 2021/ Alle Artikel, Angehörige, Empfehlungen/ 0Kommentare

Vortrag Dr. Lieselotte Mahler: Ohne Angehörige geht gar nichts!

Ohne Angehörige geht gar nichts? So etwas hatte ich noch nie ans dem Mund einer Psychiaterin gehört. Wirklich? Meint sie das ernst? Oder ist das wieder so eine Floskel, bei der gesagt wird, dass die Klinikleitung es ganz wichtig findet, dass Angehörige einbezogen werden und wir dann mit einer monatlichen Angehörigengruppe abgespeist werden? Entsprechend skeptisch, aber auch gespannt, klickte ich den Link an, der mich am 10.6.2021 zum Vortrag von Frau Mahler führte. Frau Mahler ist Chefärztin der Psychiatrie im Theodor-Wenzel-Werk – TWW in Berlin und hat vorher in Berlin-Wedding eine Soteria-Station aufgebaut, das sogenannte „Wedding Modell“. Mir hatte bereits gut gefallen, was ich über das Weddinger Modell gelesen hatte, aber ich hatte bisher nichts darüber gehört, wie sie zur Einbeziehung von Angehörigen oder überhaupt zu Angehörigen steht. Vielleicht wusste ich auch einfach zu wenig über sie.

Es kam anders, als ich erwartet hatte. Der Vortrag, in dem sie darüber berichtete, wie sie ihre Arbeit in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgebaut hat, hat mich sehr beeindruckt. Sie hatte sich vorgenommen, eine Psychiatrie einzuführen, in der die Patient*innen ernst genommen werden, mit Respekt behandelt und sie weitgehend in die Therapie und die Therapieplanung mit einbezogen sind. Ich war skeptisch. Wie kann das gehen, wenn uns doch ansonsten Psychiater*innen immer wortreich erklären, dass alles nicht geht, weil sie keine Ressourcen haben, weil Patient*innen in der Psychiatrie nicht einsichtsfähig und nicht mitbestimmen können?

Vortrag Dr. Lieselotte Mahler: Ohne Angehörige geht gar nichts!

Zunächst einmal hat sie alle, die auf den Stationen arbeiten, mit einbezogen in ihre Planung. Sie haben diskutiert, was gut läuft und was besser laufen könnten. Immer wieder erhielt sie die Antwort, dass die Ressourcen fehlen, um etwas besser zu machen. Frau Mahler hatte hier einen pragmatischen Ansatz: Lasst uns gemeinsam überlegen, was wir auch mit den vorhandenen Ressourcen besser machen können. Was könnte im Alltag verbessert werden, was ist vollkommen überflüssig? Muss die täglich oder wöchentlich Visite eigentlich genau so stattfinden? Hat irgendein Patient etwas davon, wenn eine Truppe von Ärzten*innen vor den Patient*innen stehen und nach der Frage „Wie geht es Ihnen?“ ein bisschen durch die Unterlagen blättert und dann zum nächsten Patienten übergeht? Kann das nicht ersetzt werden durch echte Begegnungen von Profis und Betroffenen, in denen beide Seiten über die anstehenden Themen reden? Wenn ich mich recht erinnere, dann finden Sitzungen immer mit Patient*innen statt. Sie werden einbezogen in die Therapieplanung, sie können ihre Meinung dazu sagen, es findet nichts oder kaum etwas hinter verschlossenen Türen statt.

Vortrag Dr. Lieselotte Mahler: Ohne Angehörige geht gar nichts!

Sie schilderte auch den ganz anderen Umgang mit Diagnosen. Wenn ein Patient ankommt, dann wird ihm nicht gleich innerhalb von 10 Minuten (so haben das meine Tochter und ich vor über 20 Jahren erlebt) eine Diagnose aufgedrückt, sondern die Patient*innen können erst einmal ein paar Tage ankommen und dann erst wird mit ihnen besprochen, zu welchen Einschätzungen die Ärzte*innen gekommen sind und vor allem, warum. Medikamente und andere Therapien werden dann gemeinsam besprochen. Auch ganz wichtig: Die Patient*innen haben eine Schlüssel zu ihren Zimmern, so dass nicht jeder Zeit irgendjemand dort hereinkommen kann. Das fördert die Autonomie und respektiert ein wenig die Privatsphäre.
Erfahrungsexpert*innen gehören ganz selbstverständlich zum Personal auf den Stationen und zwar sowohl Betroffenen-Erfahrungsexpert*innen als auch Angehörigen-Erfahrungsexpert*innen! Frau Mahler und ihre Teams sind inzwischen überzeugt davon, dass sich der Zusammenarbeit mit Erfahrungsexpert*innen sehr positiv auf die Genesung der Patient*innen auswirkt. Auch diese sind ganz selbstverständlich bei Sitzung und Besprechungen dabei.

Vortrag Dr. Lieselotte Mahler: Ohne Angehörige geht gar nichts

Wo bleiben jetzt die Angehörigen? Sie werden ernst genommen, Ihre Erfahrungen und Einschätzungen sind wichtig für die Profis, weil sie sonst nur ein Bild von den Patient*innen haben können, was sich auf die Verhaltensweisen der Patient*innen auf der Station beschränkt. Ein großer Teil der Lebensrealität der Betroffenen geht verloren, wenn nicht auch von Angehörigen oder engen Freund*innen ihre Sicht des Erkrankten geschildert werden kann. Auch die Schweigepflicht wird hier nicht als das Bollwerk gegen uns Angehörige genutzt: Die Profis rufen Angehörige an, oder beantworten die Anrufe von Angehörigen, eine revolutionäre Praxis, die meine Tochter und ich in unseren 24 Jahren Psychiatrie nur sehr, sehr selten erlebt haben. Wenn ein Patient keinesfalls möchte, dass die Profis mit seinen Angehörigen sprechen, dann wird dieser Wunsch natürlich ernst genommen. Aber die Angehörigen werden angerufen, ihnen erklärt, warum ein Gespräch jetzt nicht stattfinden kann. Aber sie werden gleichzeitig gefragt, ob sie ansonsten Hilfe benötigen, ob das Krankenhaus vielleicht in einer anderen Form helfen kann.

Vortrag Dr. Lieselotte Mahler: Ohne Angehörige geht gar nichts!

Vielleicht erinnere ich nicht alles, was Frau Mahler in ihrem Vortrag gesagt hat, vielleicht habe ich manches nicht ganz richtig verstanden. Aber ich habe gemerkt, dass es ein Grundverständnis dort gibt, dass den Patienten geholfen werden muss, aber auch den Angehörigen. Einen anderen Aspekt, der mir bei meinen Kontakten mit Psychiater*innen immer sehr unangenehm aufgefallen ist, will man hier vermeiden: Angehörige und die ganze Familie werden nicht gleich pathologisiert oder wie ich es immer sage: Uns Eltern, vor allem natürlich den Müttern, wird nicht auch gleich eine Diagnose aufgedrückt. Labile Mutter? Überbehütende Mutter? Eisschrankmutter? Schwierige Familienverhältnisse? Scheidung, prekäre finanzielle Verhältnisse, Streit in der Familie, Mütter kümmern sich zu viel oder zu wenig? Frau Mahler weist darauf hin, dass Profis gern Schnelldiagnosen verabreichen, weil die Familie nicht intakt ist. Kein Wunder, wenn die Eltern sich haben scheiden lassen, wenn die Mutter immer berufstätig war oder, ganz schlimm, alleinerziehend ist. Dann kann es ja nicht anders sein.

Vortrag Dr. Lieselotte Mahler: Ohne Angehörige geht gar nichts!

Das erlebt man übrigens nicht nur von Profis. Auch unsere besten Freund*innen wissen oft ganz genau, weshalb unsere Kinder krank geworden sind. Wie oft habe ich gehört „Ich bin überzeugt davon, dass es nicht gut für Deine Tochter war, dass Du Dich hast scheiden lassen!“ Oder von Psychiater*innen „Sie haben ja eine sehr symbiotische Beziehung zu Ihrer Tochter. Das ist für psychisch Kranke gar nicht gut!“ Wobei der Psychiater, der mir das sagte, sich darauf bezog, dass meine Tochter und ich uns immer umarmten und küssten, wenn wir uns begrüßten. „Das, sagte der junge Psychiater, „ist doch nicht normal in Familien!“ Ich weiß nicht woher, der Psychiater kam, vielleicht aus Ostwestfalen oder Schleswig-Holstein, wo man vielleicht etwas kühlere Begrüßungsformen in der Kindheit erlernt. Aber die griechischen, französischen, belgischen und indischen Vorfahren von mir und meiner Tochter hätten es sehr merkwürdig gefunden, wenn man sich in der Familie mit einem kurzen Handschlag begrüßt hätte. Ein schönes Beispiel dafür, wie Vorurteile in die Beurteilung von Familien eingehen können.
Wenn es den Angehörigen schlecht geht, dann kümmert sich die Angehörigen-Erfahrungsexpertin: Sie ruft an, spricht auf der Station  mit ihnen und fragt, wo geholfen werden kann.

Vortrag Dr. Lieselotte Mahler: Ohne Angehörige geht gar nichts!

Frau Mahler kritisiert auch die Pathologisierung der Familien. „Von den Familien der Patient*innen erwarten wir, dass sie in jeder Hinsicht vorzüglich sind. Aber wir wissen doch alle, dass auch unsere Familien nicht immer Modellfamilien sind und dass Streit unter dem Weihnachtsbaum in fast jeder Familie vorkommt.“ Ich kann ihr nicht genug dafür danken.

Es gibt noch viel mehr, was dort anders gemacht wird. Es sind viele selbstverständliche Dinge, die hinterfragt werden und auf die geachtet wird und die sie versuchen, so zu ändern, dass sich die Patient*innen so wohl wie möglich fühlen. So weit ich mich erinnere, wird auch frühzeitig darüber gesprochen, wie es nach dem Krankenhaus weitergehen kann – natürlich nur, wenn der Patient es will.
Auch im TWW ist nicht alles nur einfach und immer gut. Auch dort kommt es manchmal zu Fixierungen, wenn es nicht anders geht. Aber, und das ist wichtig, der Patient wird nicht allein gelassen in der Zeit der Fixierung und nach der Fixierung findet immer ein Gespräch mit dem Betroffenen statt. Es wird  ihm erklärt, dass die Profis wissen, dass eine Fixierung eine tiefgreifender Eingriff in die körperliche Autonomie eines Menschen ist. Es wird auch erklärt, weshalb die Profis zu der Fixierung kamen und dass es ihnen leid tut.
Auch wenn es peinlich ist: Während des Vortrag sind mir plötzlich die Tränen gekommen. Wie viel Kummer wären meiner Tochter und mir erspart geblieben, wenn wir in eine Klinik gekommen wären, die sich in dieser Weise Gedanken um die Erkrankten und ihre Angehörigen macht. Wir haben in Berlin nur eine andere Klinik erlebt mit einem wirklich guten Oberarzt, der auf seiner Station schon vor einigen Jahren von viel von dem dem, was Frau Mahler im TWW etabliert, auch schon etabliert hatte. Natürlich ist er jetzt leider nicht mehr in Berlin, sondern Chefarzt in Frankfurt/Oder. Danke, Herr Dr. Neuhaus!

Vortrag Dr. Lieselotte Mahler: Ohne Angehörige geht gar nichts!

Nach dem Vortrag meldete ich mich und fragte, wie es ihr und den Kolleg*innen denn gelungen sei, die tiefsitzende Abneigung vieler Profis gegenüber Angehörigen zu durchbrechen. Auch dasThema wurde angesprochen: Den Mitarbeiter*innen wird die Möglichkeit gegeben, in Gruppen diese Themen anzusprechen. Sie merken, dass ihre Arbeit leichter wird, wenn sie auf die Angehörigen zugehen und sie nicht immer abwehren. Sie lernen vielleicht auch  durch die Erfahrungsexpertin etwas darüber, weshalb sich Angehörige manchmal „schwierig“ verhalten. Ja, wir sind manchmal schwierig, aber das müsste man doch auch verstehen, wenn man sich in die Perspektive von Angehörigen hineinversetzt? Es gibt auch die Möglichkeit, dass eine Pflegende bitten kann, dass eine andere Kollegin mal die Familie X. übernimmt, weil es der zuständigen Pflegenden heute vielleicht zu viel wird.
Ein guter Ansatz, weil hier auf Angehörige Rücksicht genommen wird, aber eben auch auf die Situation und die Befindlichkeiten von Pflegenden.

Ein ermutigender Vortrag, von dem ich nur hoffen kann, dass es nicht Frau Dr. Mahler allein ist, die sich diese Gedanken macht, sondern dass sich auch in anderen Krankenhäusern jüngere Chefärzt*innen Gedanken Umeine gute Praxis in der Akutpsychiatrie machen.

 

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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