Janine Berg-Peer/ April 14, 2018/ Alle Artikel, Angehörige/ 0Kommentare

Sorgen von Angehörigen psychisch Erkrankter

In Angehörigengruppen ebenso wie in der Einzelberatung von Angehörigen geht es eigentlich immer um die gleichen Probleme: Angehörige wissen nicht, wie sie mit ihre erkrankten Familienangehörigen umgehen sollen. Sie fühlen sich hilflos, sie stehen verzweifelt vor der Tatsache, dass die Betroffenen keine Hilfe annehmen wollen oder können. Wieder andere Angehörige sind verzweifelt, weil sie sich von den Betroffenen schlecht behandelt oder gar ausgenutzt fühlen. Damit kommen sie in ein für sie unentwirrbares Gefühlschaos: Sie sind verzweifelt, manchmal auch wütend auf die Betroffenen. Gleichzeitig sind sie voller Mitgefühl, weil sie sehen, dass die Betroffene krank sind und – wie die Angehörigen meinen – krankheitsbedingt einfach nicht anders können.

Dieses Gefühlschaos macht es schwer, die Situation klar zu erkennen, unterschiedliche Gedanken und Gefühle zu entwirren. Um das tun zu können, müssen wir die Annahmen erkennen, die hinter dieses widersprüchlichen Gefühlen stehen: Glauben wir, dass ein Betroffener uns „schlecht“ behandelt, weil er rücksichtslos ist, weil er uns nicht (mehr) mag, weil er wütend auf uns ist, weil er findet, dass wir ihn schlecht behandeln? Oder glauben, dass manche dieser verletzenden Verhaltensweisen der psychischen Krankheit geschuldet sind und er nicht anders kann?

Im ersten Fall sind wir traurig oder wütend – je nach Temperament. Wenn wir also glauben, der Betroffene hat einen Grund dafür, uns wenig nett zu behandeln, dann kann er auch verstehen, wenn wir uns mit ihm darüber unterhalten. Dann könnten wir uns mit dem Betroffenen in einer ruhigen Situation hinsetzen und diese Dinge ansprechen: Nicht beschuldigen „Du bist immer … oder nie…“, sondern fragen, warum er zu einem bestimmten Zeitpunkt so oder so gehandelt hat oder dieses oder jenes gesagt hat. Und wir dürfen auch sagen, dass wir das wissen wollen, weil es uns verletzt hat.

Sorgen von Angehörigen psychisch Erkrankter

Dann sollten wir erst einmal zuhören, auch wenn es länger dauert, weil der Betroffenen vielleicht selbst nachdenken muss, warum er etwas gesagt oder getan hat. Vielleicht will er auch erst einmal über diese Frage nachdenken. Geben wir ihm diese Zeit, aber machen wir einen Zeitpunkt aus, bei dem wir das Thema noch einmal ansprechen wollen. Vielleicht kann er uns dann im folgenden Gespräch erzählen, warum er etwas getan hat. Er war vielleicht wütend, weil wir etwas getan haben. Vielleicht war er aber auch sauer, weil er gerade etwas erlebt hat, das ihn verletzt oder verärgert hat. Vielleicht weiß er es aber auch nicht mehr. Reden wir darüber und vereinbaren wir, dass wir wir uns künftig besser verständigen. Er kann uns sagen, dass er gerade sauer ist und gar nicht mit uns reden will. Vielleicht nervt es ihn, dass wir fragen, ob er seine Tabletten genommen hat oder ob er endlich beim Arzt oder Job Center war oder ob er sein Zimmer der seine Wohnung aufgeräumt hat. Damit hat er auch Recht: Es geht uns nichts an, er ist ein erwachsener Mensch (ich spreche hier von volljährigen Betroffenen). Die Tatsache, dass wir uns Sorgen machen, gibt uns nicht das Recht, ihn wie ein kleines Kind zu behandeln.Aber wir können ihm auch sagen, dass es uns gerade nicht passt, wenn er die Rockmusik in voller Lautstärke hört oder in unserer Wohnung unangemeldet  auftaucht, wann immer er es will. Oder dass wir ihm nicht schon wieder Geld geben wollen.

Sorgen von Angehörigen psychisch Erkrankter

Auf diese Weise lernen wir beide, Grenzen zu setzen. Wir dürfen nämlich nicht nur unseren erkrankten Kinder Grenzen setzen, sie dürfen sie auch uns setzen. Auch wir überschreiten manchmal Grenzen, sicher nicht böswillig, aber ohne nachzudenken. Alle diese geäußerten Sorgen oder Klagen „Er will einfach nicht…, er tut immer…, er kümmert sich nicht um…, nützen niemandem. Wir müssen akzeptieren, dass er oder sie etwas nicht wollen, und dass wir daran nichts ändern können. Aber wir können unser Verhalten ändern. Wir können klar sagen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Aber dann bitte auch aushalten, dass er sauer wird. Klar wird er sauer. Wenn er bislang immer zu uns kommen konnte, wann er wollte, dann wird es ihn ärgern, dass sie plötzlich sagen „Vorher bitte anrufen und fragen, ob es passt“ oder „Überhaupt nur Dienstag und Freitag zwischen 15:00 und 18:00“. Mit seinem geäußerten Ärger will er uns dazu bringen, dass wir unsere Ansage wieder aufgeben. Es heißt also, Konfliktbereitschaft zu entwickeln und auch mal ein lautes Wort oder eine geknallte Tür oder die Drohung „Mich siehst Du nie wieder!“ auszuhalten. Aber halten Sie es auch aus, wenn der Betroffene seine Grenzen geltend macht. Seine Aussage „Es geht Dich nichts an, ob ich…“ müssen wir genau so anerkennen und aushalten, wie wir es für unsere Grenzen tun.

Ärger, Streit und unterschiedliche Meinungen sind normal in menschlichen Beziehungen. Nur weil er oder sie eine psychische Erkrankung haben, wird das nicht anders, aber es kann natürlich heftiger werden. Die Betroffenen sind dünnhäutig und wir werden das nach jahrelanger Begleitung von Krisen oft ebenfalls.

Sorgen von Angehörigen psychisch Erkrankter

Wenn wir aber im zweiten Fall glauben, dass er nicht anders kann, weil er krank ist, dass also die mangelnde Krankheitseinsicht ein Symptom ist (Anosognosia), dann können wir daran gar nichts ändern. Dann sollten wir ihn nicht ständig überzeugen wollen oder hoffen, das Ärzte oder eine Zwangseinweisung ihn endlich überzeugen wird. Dann müssen wir das hinnehmen, denn er kann ja nicht anders.

Aber Vorsicht: Woher wissen wir, dass die Ablehnung von Therapien mangelnde Krankheitseinsicht ist? Vielleicht hat die Ablehnung nachvollziehbare Gründe: Meine Tochter wollte nicht dick und müde sein, daher warf sie ihre Tabletten weg. Manche Männer werden impotent, auch nicht lustig für einen jungen oder auch älteren Mann. Andere wollen nicht von chemischen Substanzen verändert werden, und wieder andere befürchten gesundheitliche Folgen, von denen jetzt überall zu lesen ist. Es kann auch der Wunsch nach mehr Autonomie sein, der Wunsch, dass der Betroffene mit seinemPsychiater ruhig darüber sprechen kann, ob und wann und wie viele und welche Medikamente er nehmen will und mit welchen Nebenwirkungen er zu rechnen hat. Dass er auch nach Wochen oder Monaten wieder zu ihm kommen kann und ein anderes Medikament wählen will. Das tun aber leider nur wenige Psychiater. Es gibt also viele Gründe. Statt zu verzweifeln, sollten wir mit den Betroffenen darüber reden, warum er oder sie keine Medikamenten nehmen will. Oder nicht ins Krankenhaus gehen will. Manche Betroffene machen schlecht Erfahrungen im Krankenhaus – sicher nicht alle, aber es ist dann sehr verständlich, dass sie nicht wieder dorthin wollen.

Und: Woher wissen wir, dass alles gut würde, wenn er nur Tabletten nimmt und ab und zu ins Krankenhaus geht? Wir kennen doch Viele, bei denen das auch nicht hilft.

Sorgen von Angehörigen psychisch Erkrankter

Solange wir uns traurig oder hilflos fühlen, weil unsere Kinder „nicht nett“ zu uns sind, oder einfach nicht einsehen wollen, dass es besser wäre, Medikamente zu nehmen, oder ins Krankenhaus zu gehen, solange wird sich nichts ändern. Es ändert sich nichts, weil wir unsere Wünsche in eine falsche Richtung richten: Wir wünschen uns, dass er sich anders verhält. Das aber wird nicht passieren, niemand ändert sein Verhalten, weil andere Menschen das wollen. Aber wir können uns ändern! Wir sollten unsere Wünsche in eine andere Richtung richten: Was können wir beeinflussen? Z.B. die Beziehung, die wir zu ihm haben. Wenn wir uns eine gute Beziehung wünschen, dann sollten wir ihn mit und ohne Krankheitseinsicht akzeptieren und mehr darauf hören, welche Wünsche er hat. Also, überlegen Sie, wie Sie Ihr Kind unterstützen können, auch wenn er keine Tabletten nimmt oder nicht ins Krankenhaus geht.

In der Manie hat meine Tochter schnell alles Geld ausgegeben, hatte nichts zu essen und zu rauchen und ging mich aggressiv wegen Geld an. Ich konnte ihren Drang, Geld auszugeben, nicht ändern, aber ich konnte ihr zwei mal die Woche zwei große Tüten mit Lebensmitteln vorbeibringen, dazu zwei Päckchen Tabak und € 20. Plötzlich war viel weniger Aggression da und auf diese Weise haben wir die Manie gemeinsam durchgestanden. Ihr Sohn wohnt bei Ihnen, schläft jeden Tag bis 14:00, sitzt im Schlafanzug vor dem Fernseher, wenn Sie von der Arbeit nachhause kommen? Das stört Sie? Sie werden mit Ermahnungen nichts erreichen, aber Sie können im ganz klar sagen, dass er nicht mehr bei Ihnen wohnen kann, wenn er diese Angewohnheit nicht aufgibt. Wenn man gemeinsam wohnt, müssen sich alle Beteiligten an Regeln halten. Wenn er es nicht kann oder nicht will, dann kann er nicht bei Ihnen wohnen. Sie stellen ihm ein Ultimatum: In drei Monaten muss er eine andere Wohnung gefunden haben. Aber dann auch durchhalten! Ihre Tochter hockt tagelang in ihrer unaufgeräumten Wohnung, pflegt sich nicht mehr, ist kaum ansprechbar? Macht Ihnen nicht die Tür auf? Halten Sie dennoch Kontakt, stellen Sie etwas zu essen vor die Tür, schicken Sie jede Woche oder alle 14 Tage eine Postkarte oder einen Brief mit etwas Geld. Zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie den Kontakt nicht abbrechen, auch wenn Sie nicht alle seine Verhaltensweisen akzeptieren. Zeigen Sie ihm, dass Sie sein Verhalten nicht gut finden, aber ihn als Mensch weiterhin lieben. Trennen Sie zwischen Sache und Person, wie es Rosenberg in „Gewaltfreie Kommunikation“ sagt.

Die Sorgen der Angehörigen

Merken Sie etwas? Sie müssen oder können sich ändern, das sollte Ihnen Mut machen. Denn unglücklich sind wir, weil wir den Anderen nicht ändern können und uns daher hilflos fühlen. Aber wir sind nicht hilflos: Wir können uns ändern. Dann wird sich zwar die Situation nicht grundsätzlich ändern, aber es ändert sich etwas an der Beziehung, und das kann für beide Seiten gut sein.

Vielleicht werden Sie sagen, ich hätte gut reden, Sie könnten doch nicht…, oder es ginge doch nicht…, oder Sie müssten sich doch Sorgen machen… Es ist Ihre Entscheidung. Sie können weiter unglücklich und hilflos sein. Aber Sie können sich auch darauf konzentrieren, lösbare Probleme zu identifizieren. Und dann überlegen Sie, wie Sie diese lösen können. Nein, Sie können die Krankheit Ihres Kindes oder seine Verhaltensweisen ebensowenig heilen, wie Sie diese auch nicht hervorgerufen haben. Aber Sie können einen Weg wählen, Ihr Kind zu begleiten, der Sie nicht bis zur eigenen Erkrankung belastet.  Das beginnt mit einer anderen Einstellung: Nein, Ihr Kind muss nicht tun, was Sie oder ein Arzt will. Er oder sie sind trotz Erkrankung erwachsene Menschen. Aber Sie sind gleichfalls nicht verpflichtet, stets die Konsequenzen der Entscheidungen Ihres Kindes zu tragen. Auch Angehörige haben Rechte. Er verliert seine Wohnung, weil er wieder die Medikamente abgesetzt hat und nachts zu laut war? Das ist schlimm, aber das ist dann so. Ihre ständigen Sorgen werden die Obdachlosigkeit nicht verhindern. Er hat kein Geld, weil er zu viel ausgibt? siehe oben. Er ist einsam, weil er sich weigert, zu den angebotenen Gruppen bei einem sozialpsychiatrischen Träger zu gehen? Weil er nichts mit diesen psychisch Kranken zu tun haben will? Das ist seine Entscheidung, Sie sind nicht verpflichtet, Ihr Leben aufzugeben, damit er nicht einsam sind. Im Gegenteil. Vielleicht verhindert sogar Ihre ständige Anwesenheit, dass er dann vielleicht doch einmal dorthin geht…?

Die Sorgen der Angehörigen

Nehmen Sie Abstand von der Haltung, dass alles besser würde, wenn er doch nur…, oder wenn dieÄrzte doch nur… oder die Gesellschaft und die Nachbarn doch nur…

Alles das wird nicht passieren. Unterstützen Sie Ihr Kind, wo es erwünscht und auch hilfreich ist. Tun Sie nichts für Ihr Kind, das es auch selbst tun könnte. Bleiben Sie liebevoll bei ihm, auch wenn er nicht „gehorsam“ ist. Aber achten Sie auf Ihre Grenzen und sagen klar, wo diese liegen.

Das alles ist keine Kritik an dem Verhalten von Angehörigen. Ich habe Hochachtung vor allen Angehörigen, die in Gruppen gehen oder ansonsten Beratung suchen, um mit dem Erkrankten besser umgehen zu können. Das tun sie, weil sie sich Gedanken um ihr Kind machen. Weil sie ihr Kind lieben.  Und das ist großartig. Egal, ob wir gute oder weniger gute Verhaltensweisen zeigen, unser Kind ist uns wichtig und wir wollen so gern das Richtige tun. Es gibt sehr viel Angehörige, die sich gar nicht um ihr erkranktes Kind kümmern, das ist traurig. Denken Sie immer daran, es gibt Niemanden, der weiß, was das Richtige ist. Aber wir können unsere guten Erfahrungen weitergeben. Vielleicht ist dann der ein oder andere Gedanke dabei, der uns weiterhilft.

Und diesem Sinne alles Gute und bis bald.

Janine Berg-Peer

 

 

 

 

 

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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