Janine Berg-Peer/ März 28, 2019/ Alle Artikel, Angehörige, Kritisches, Veröffentlichungen/ 0Kommentare

Sie müssen keine Schuldgefühle haben, Frau Berg-Peer!

Die HPE – Hilfe für Angehörige psychisch  Erkrankter ist die Angehörigenorganisation von Österreich. Sie ist bekannt für interessante Themen, Workshops, trialogische Sitzungen und Kongresse. Ausserdem hat die HPE eine äußerst interessante Zeitung „Kontakt“. In der aktuellen Ausgabe, Jahrgang 42, Ausgabe 1, hat die HPE das wichtige Thema „Schuld“ und „Schuldgefühle“ aufgegriffen. Ich druckte auch einen Beitrag darin schreiben. Alle Artikel in dieser Ausgabe beschäftigen sich mit dem Thema „Schuld“ aus unterschiedlichen Perspektiven – ich denke, dass das eine lohnende Lektüre für viele Angehörige ist. Daher hänge ich hier die PDF-Datei der gantzen Zeitschrift an.

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Janine Berg-Peer

„Ihre Tochter hat Schizophrenie, aber Sie brauchen keine Schuldgefühle zu haben!“

Mit diesem denkwürdigen Satz wurde ich vor 22 Jahren in die Welt der Psychiatrie eingeführt. Es war in diesem Moment schon schwer für mich zu begreifen, dass meine süße, sanfte Tochter an einer Krankheit leiden sollte, die einen dermaßen furchteinflößenden Namen hatte. Schizophrenie! Welche entsetzlichen, angsterregenden Bilder taten sich in meinem Kopf auf. Über Schuldgefühle konnte ich in diesem Moment nicht nachdenken. Ich konnte nicht gleichzeitig aufnehmen, was mir die freundliche Psychiaterin mit der tröstenden Botschaft sagen wollte, ich müsse keine Schuldgefühle haben.

Ich verstehe gar nichts

Als ich nach den ersten aufregenden Wochen wieder dazu kam, nachzudenken, erinnerte ich mich an diesen denkwürdigen Satz. Was hatte Schizophrenie mit Schuldgefühlen zu tun? Weshalb glaubte sie, mich trösten zu müssen? Warum glaubte sie, mir meine Schuldgefühle ausreden zu müssen? Ich hatte doch gar keine Schuldgefühle. Aber selbst, wenn ich Schuldgefühle gehabt hätte, woher wollte sie das denn wissen? Als ich diese Frage Jahre später einmal einem Gremium von Ärzten stellte, meinte einer der anwesenden Herren munter „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Berg-Peer. Wir Psychiater sorgen schon dafür, dass Sie Schuldgefühle bekommen!“ Das war natürlich nicht ganz ernst gemeint, aber Recht hatte er dennoch.

Müssen wir Schuldgefühle haben? Es gibt keinen Vortrag über die Leiden der Angehörigen psychisch Erkrankter, in dem nicht mit düsterer Mine über die Schuldgefühle gesprochen wird, unter denen wir leiden. Mich hat das immer erstaunt. Ich hatte keine Schuldgefühle, es gab aber viele andere schwierige Gefühle, unter denen ich litt. Ich glaube bis heute nicht, dass jede Mutter und jeder Vater automatisch Schuldgefühle haben muss, wenn eine psychische Krankheit bei dem eigenen Kind diagnostiziert wird.

Sie müssen keine Schuldgefühle haben, Frau Berg-Peer!

Die schizophrenogene Mutter ist noch sehr lebendig. Wie kam es zu der inzwischen zum Allgemeingut gehörenden Annahme, dass Eltern Schuld haben und daher unter Schuldgefühlen leiden, wenn ihr Kind psychisch erkrankt? Psychische Krankheiten gab es immer schon und mit zunehmendem wissenschaftlichem Erkenntnissen änderten sich die Annahmen über die Ursachen dieser Erkrankungen. Lange glaubte man, es sei der Teufel selbst oder aber böse Geister, die Menschen in den Wahnsinn trieben. Anfang des 20.Jahrhunderts entwickelte die renommierte Psychoanalytikerin Frieda Fromm-Reichmann die These, dass ein widersprüchliches

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Kommunikationsverhalten von Müttern (nicht der Väter) in die Schizophrenie führte. Sie war damit die Erfinderin der schizophrenogenen Mutter, also der Mutter, die durch ihr Verhalten ihr Kind schizophren machte. Diese Grundannahme findet sich in dem High-Expressed-Emotion Konzept wieder, nach dem Mütter, die sehr deutliche ihre negativen Emotionen, aber auch ihre positiven Emotionen gegenüber ihrem Kind zeigten, ebenfalls das Kind in eine Schizophrenie führten. Diese Annahme zieht sich durch viele psychologischen Schulen bis hin zur systemischen Therapie, nach der das krankmachendes familiäres System ein Kind in die psychische Krankheit flüchten lässt. Wenn vom familiären System die Rede ist, wissen wir Mütter genau, wer gemeint ist.

Ich wusste vor 22 Jahren nicht, dass widersprüchlich kommunizierende (double bind) oder auch schizophrenogene Mütter ihre Kinder schizophren machen können. Alle Menschen senden ab und zu widersprüchliche Botschaften aus. Auch Mütter. Wie oft haben wir unserem strahlenden Kindergartenkind versichert, dass wir das aus Ton geformte hässliche Ungetüm, das uns als Aschenbecher angedient wird, wirklich wunderschön finden? Die These der schizophrenogenen Mutter war eine verhängnisvolle und folgenreiche Annahme. Auch wenn diese These heute nicht mehr als herrschende Meinung gilt, ist sie in vielen Köpfen von Psychiatern und Laien auch heute noch präsent. Das ist vielleicht auch der Grund, warum heute „aufgeklärte“ Psychiater oder Psychoanalytiker sich mit der Formulierung „Sie brauchen aber keine Schuldgefühle zu haben“ quasi schon einmal vorab dafür entschuldigen, dass dieser Gedanke immer noch ein wenig in ihren Köpfen herumgeistert.

Sie müssen keine Schuldgefühle haben, Frau Berg-Peer!

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Das alles wusste ich vor 22 Jahren nicht, aber ich lernte bald, was der heitere Psychiater mit seinen Worten gemeint hatte. Kaum sind wir Angehörige geworden und betreten das Minenfeld der Psychiatrie werden wir mit keineswegs widersprüchlichen, sondern sehr eindeutigen Botschaften konfrontiert: „Sie sind aber auch eine sehr dominierende Frau!“ hörte ich, als ich einem Kollegen von der Krankheit meiner Tochter erzählte. „Sie haben aber eine sehr symbiotische Beziehung zu Ihrer Tochter. Das ist für Psychotiker gar nicht gut!“ kam vom Stationsarzt meiner Tochter nach einigen Wochen ihres Krankenhausaufenthalts. „Die Scheidung war sicher nicht gut für Henriette“, weiß eine gute Freundin. „Sie sollten ihrer Tochter ein bisschen vertrauen“, sagte die Psychologin des Sozialpsychiatrischen Dienstes. „Sie scheinen als Mutter immer alles unter Kontrolle haben zu wollen. Das ist nicht gar gut für Ihre Tochter!“ Ich glaubte, dass die Expertin des Sozialpsychiatrischen Dienstes meine Tochter vielleicht zu einem freiwilligen Krankenhausaufenthalt überzeugen könnten. Leider gelang es mir nicht, die Mitarbeiterin des Sozialpsychiatrischen Dienst zu einem freiwilligen Besuch bei meiner Tochter zu motivieren. Die Dame dort war überzeugt, dass es mein Kontrollbedürfnis sei, das meine Tochter davon abhielt, freiwillig ins Krankenhaus zu gehen. Es war also wieder meine Schuld.

Einige meiner Bekannten waren der Meinung, dass meine Berufstätigkeit die Ursache für Henriettes Erkrankung war. Meine Familie sagte es nicht so deutlich, aber es klang durch, dass meine

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Scheidung sicher traumatisch für meine Tochter gewesen sein musste. Als meine Tochter beschloss, ihren Schulabschluss nachzuholen, warnten mich Psychiater, ich dürfe doch meiner armen, schwerstkranken Tochter nicht meinen beruflichen Ehrgeiz aufzwingen, denn das sei sehr schlecht für sie.

Sie müssen keine Schuldgefühle haben, Frau Berg-Peer!

 Unsere Schuldgefühle kommen von außen. Wir haben also nicht immer automatisch Schuldgefühle, sondern wir werden von unserer Umwelt, von Fachleuten und auch allzu oft von lieben Verwandten und Freunden darauf hingewiesen, dass entweder direkt in unserer Person (dominierend) oder aber in unserem Verhalten (ehrgeizig) die Ursachen für die Erkrankung liegen. Selbst wenn wir wissen, dass viele dieser Aussagen nicht richtig sind, dann bleiben wir doch nicht unberührt von ihnen. Sie tun uns weh, sie kränken uns und oft beginnen wir dann auch allmählich ein über unsere mögliche Schuld nachzudenken. Hätten wir nicht doch lieber eine Weile auf den Beruf verzichten sollen? Oder bei einem Ehemann bleiben, den wir unerträglich fanden? Waren wir manchmal zu streng oder nicht streng genug? Mich haben damals die Worte der Psychiater auch verunsichert, ich wusste nicht mehr, ob ich Henriette bei ihrem Schulabschluss unterstützen sollte oder ihr lieber davon abraten. Wir beginnen, an uns zu zweifeln und langsam schleicht sich ein Schuldgefühl ein. Dann hören wir vielleicht auch noch von unseren Kindern, dass wir immer alles falsch gemacht hätten und wir Schuld an ihrer Krankheit seien.

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Heute geht man von einem biopsychosozialen Krankheitsmodell aus, das aussagt, dass es biologische, also genetische, soziale und psychologische Einflussfaktoren gibt und man nicht wissen kann, welche Faktoren bei einen bestimmten Patienten den größten Einfluss hatten. Ich habe manchmal den Eindruck, dass viele Menschen sich gern auf die sozialen und psychologischen Faktoren berufen, weil inzwischen jeder Laienpsychologe meint, darüber genau Bescheid zu wissen.

Sie müssen keine Schuldgefühle haben, Frau Berg-Peer!

Wir sind nicht schuld, aber wir waren dabei: Die Schuld wird uns also von außen zugeschoben und wir sollten sie freundlich, aber bestimmt wieder zurückschieben. Nein, wir haben keine Schuld. Es geht überhaupt nicht um Schuld. Was aber nicht heißt, dass die Erkrankung nichts mit uns zu tun haben kann. Wir waren dabei, wir haben unser Kind aufwachsen sehen und wir haben es beeinflusst. Vielleicht gab es Entscheidungen, die für unser vulnerables Kind nicht gut waren. Vielleicht haben wir in der besten Absicht von ihm zu viel verlangt. Vielleicht haben wir ihm zu wenig Struktur gegeben, weil wir davon überzeugt waren, dass junge Menschen sich frei entwickeln sollen. Das alles kann uns aber nicht als Schuld auslegt werden: Woher hätten wir wissen sollen, dass unser Kind vulnerabel ist? Unseren anderen Kindern hat es doch auch nicht geschadet?

Diese Zuschreibung von Schuldgefühlen kann dazu führen, dass wir beginnen, zu grübeln, ob es nicht doch etwas in der Kindheit des Betroffenen gab, das zu der Erkrankung geführt hat. Oft wissen wir nicht, was dieses „etwas“ sein könnte, aber es nagt in uns und kann zu Schuldgefühlen führen. „Vielleicht hätte ich meinen Sohn nicht so früh abstillen sollen“, sagte mir eine unglückliche Mutter,

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die sich immer wieder fragte, was sie denn hätte anders machen können. Man könnte im ersten Moment über diesen Ausspruch lächeln, aber ich habe verstanden, dass diese Mutter ständig nach etwas suchte, das sie hätte besser machen können. Sie tat mir leid, weil sie sich offensichtlich den immer wieder vorgebrachten Schuldzuweisungen an die Mütter (nie die Väter) nicht widersetzen konnte.

Sie müssen keine Schuldgefühle haben, Frau Berg-Peer!

Auch wir sind Teil der Gesellschaft. Ich glaube aber, dass es noch eine weitere Ursache für unsere Schuldgefühle geben kann. Auch wir Angehörige sind Teil dieser Gesellschaft und haben oft die gleichen Vorurteile, wie die meisten anderen Menschen sie haben. Bevor wir Angehörige wurden, haben wir vielleicht ebenfalls gedacht, dass eine psychische Erkrankung nur in Familien vorkommt, in denen etwas „nicht in Ordnung“ ist. Wir wissen zwar nicht, was, aber es muss doch einen Grund für diese merkwürdige Erkrankung geben. In Familien, in denen alles in Ordnung ist, also in guten Familien, passiert doch so etwas nicht. Bevor eines unserer Kinder erkrankt war glauben wir, auch zu den guten Familien zu gehören. Gehören wir jetzt also auch zu den Familien, in denen etwas „nicht in Ordnung“ ist? Manche Angehörige versuchen, jahrelang zu verheimlichen,

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dass eines ihrer Kinder krank ist. Sie sagen, dass sie ihre Kinder schützen wollen, aber ich denke, dass sie sich schämen. Hinter dieser Scham steht das Gefühl, dass sie nun auch zu den Familien gehören, in denen „etwas nicht in Ordnung“ ist. Es ist schwer, das innerlich zu akzeptieren.

Schuldgefühle schaden uns und unseren Kindern. Schuldgefühle schmerzen und daher neigen wir dazu, alles abzuwehren, was uns als Kritik an unserem Verhalten entgegen gebracht wird. Auch die Empfehlung eines Psychiaters, unser Kind doch etwas loszulassen und eigene Erfahrungen machen zu lassen, empfinden wir leicht als Schulzuweisung. Diese Verteidigungshaltung kann dazu führen, dass wir auch wirklich gut gemeinte Hinweise, wie wir unser Kind besser unterstützen könnten, nicht hören wollen.

Sie müssen keine Schuldgefühle haben, Frau Berg-Peer!

Außerdem führen unsere Schuldgefühle in die Vergangenheit: Was hätten wir anders machen sollen, welche Verhaltensweisen oder Entscheidungen waren nicht gut für unser Kind? Vor allem aber bedeuten sie, dass wir uns mit uns selbst beschäftigen, nicht mit unserem Kind. Mein Rat an alle Angehörige ist es, die Vergangenheit ruhen zu lassen und stattdessen darüber nachzudenken, was sie heute tun können, um ihr Kind zu unterstützen, ohne gleichzeitig sich selbst vollkommen aufzuopfern. Ich musste lernen, geduldiger zu werden, weil ich merkte, dass meine Ungeduld Henriette nicht gut tat. Ich musste auch meine Ängste in den Griff bekommen, um ihr ein

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eigenständiges Leben zu ermöglichen. Ich musste lernen, mich nicht von meinen Sorgen leiten zu lassen, sondern vernünftig zu reagieren. Jede von uns muss andere Verhaltensweisen überdenken, um unsere Kinder heute und zukünftig sinnvoll zu unterstützen.

Von einer Betroffenen hörte ich, dass sie anderen Betroffenen dazu aufrief, aufzuhören, ihren Eltern die Schuld zu geben. Damit würden sie ihren Eltern unnötig viel Macht geben, anstatt selbstbewusst ihr eigenes Leben zu gestalten. Das trifft genau die Bemerkung meiner wunderbaren Psychotherapeutin, die sagte, dass jemand, der glaubte, eine so schwere Krankheit wie Schizophrenie hervorrufen könne, an Größenwahn leiden müsse.

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Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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