Janine Berg-Peer/ September 2, 2020/ Alle Artikel, Angehörige, Kritisches/ 0Kommentare

Drei Menschenleben verloren, weil Strukturen fehlen

Heute möchte ich den Brief von Herrn Desch, Vorsitzender des Landesverband der psychisch Erkrankten Hessen weitergeben, weil er mir und meiner Tochter Henriette Peer aus der Seele spricht. Ich danke Herrn Desch und den Mitgliedern des Landesverbandes Hessen für diese wichtigen und – leider – so richtigen Worte. Warum drei? Das Kind ist gestorben, die Mutter wird in ihrem Leben nicht mehr froh und der Patient, der Täter, wird jetzt dauerhaft weggesperrt, obwohl ihm und Mutter und Kind hätte geholfen erden können, wenn er vorher eine bessere Betreuung gehabt hätte.

Sehr geehrte Damen und Herren,
guten Tag, liebe Mitglieder des LV Hessen, Betroffene, Professionelle, Freunde und an Psychiatrie interessierte Mitmenschen,

mit diesem Newsletter möchten wir Angehörigen, Professionellen, Entscheidern aus Politik und Sozialkassen Einblicke in die Welt der Bedürfnisse von Angehörigen von Menschen mit psychischer Beeinträchtigung anbieten.

Drei Menschenleben verloren, weil Strukturen fehlen

Gewalt-Akte unter Beteiligung von Menschen mit psychiatrischen Symptomen beschäftigen uns immer wieder (s. folgende Artikel). Dass es zu gefährlichen Situationen mit schwer psychisch Kranken kommt, ist aber kein Naturgesetz, sondern eine traurige Folge defizitärer Versorgungs-Strukturen, die Prävention meidet und den Hilfsbedürftigen ambulant-präventiv nicht rechtzeitig zur Seite steht. Darüber lesen Sie hier mehr:
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Urteil zum Tod am Gleis 7
Ist in diesem Artikel zum tragischen Geschehen am Frankfurter Hauptbahnhof vom Spätsommer 2019 wirklich alles gesagt? Den verständlichen  Emotionen folgend wird auf die Grausamkeit  verwiesen, statt die akute Hilfsbedürftigkeit der Patienten zu betonen. Unterversorgte psychiatrische Patienten und deren Familien fühlen sich durch solche einseitigen Formulierungen als Gewalttäter stigmatisiert.  Mehr Sicherheitsbeamte sind nicht geeignet, therapeutische Defizite auszugleichen.
Psychiatrische Patienten sprechen nach stabilisierenden Therapien mitunter von Black-Outs während temporär-akuter krisenhafter Zustände. Vorliegende „S3-Leitlinien Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-020.html) empfehlen seit langer Zeit ambulante Maßnahmen, die bis heute kaum umgesetzt wurden.
Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn Kommunen die in den Leitlinien empfohlenen aufsuchenden therapeutischen Krisendienste und bedarfsgerechte ambulante Nachsorge leisten könnten? Leider verliert der Autor des FAZ-Artikels über diese defizitäre Situation keine Worte, wodurch der Stigmatisierung der Patienten Vorschub geleistet wird.
Ein Kind durch eine unerwartete Attacke zu verlieren, ist unerträglich. Der Vorstand des LV Angehörige psychisch Kranker e.V. drückt der betroffenen Familie und deren Umfeld das herzliche Mitgefühl und Anteilnahme aus.

Drei Menschenleben verloren, weil Strukturen fehlen

Genau so unerträglich ist es für Angehörige von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ihre Kinder, Geschwister oder Partner an diese tückische Krankheit zu verlieren. Unser unterentwickeltes ambulantes System der kommunalen Daseinsvorsorge lässt bei betroffenen Patienten aufkommende psychische Krisen gedeihen. „Warten Sie, bis es schlimmer wird. Dann kommt die Zwangseinweisung“, bekommen verzweifelte Angehörige seit Jahrzehnten in den meisten Regionen Deutschlands zu hören. Betroffene und deren Familien leben seit Jahrzehnten mit Vertröstung statt spontan aufsuchender und ausreichender therapeutischer Hilfe.
Die erforderliche Prävention findet kaum statt, hilfreiche Krisen-Telefone einzelner engagierter Träger können therapeutische Präsenz nur bedingt ersetzen. Städte und Landkreise müssen endlich flächendeckend  in die Lage versetzt werden, diese mobilen Krisendienste zu installieren und dauerhaft zu unterhalten. – Wie viel Leid könnte vermieden, wie viele traurige Schicksale könnten gerettet, wie viele unnötige Früh-Verrentungen könnten vermieden werden.
Kostenträger und Politik sind aufgefordert, durch Sicherstellung ausreichender Finanzierung und Strukturierung endlich für eine Humanisierung des komplexen psychiatrischen Systems zu sorgen. Entsprechende Verhandlungen zwischen Ministerien, Kosten- und Leistungsträgern müssen rasch zum Erfolg geführt werden. Zu viele psychiatrische Patienten leben vereinsamt, mit schweren Symptomen außerhalb der Hilfe-Systeme und bedürfen dringend therapeutischer Zuwendung.

Hier gehts zum FAZ-Artikel vom
https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/gutachter-haelt-habte-a-fuer-nicht-schuldfaehig-fuer-toetung-an-gleis-7-16925427.html

 Drei Menschenleben verloren, weil Strukturen fehlen
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Vermeidbarer Zwang in psychiatrischen Kliniken / vermeidbare Gewalt durch psychisch erkrankte Menschen

Fehlende kurzfristig und wiederholt aufsuchende Prävention (Krisendienste) und am Bedarf orientierte Nachsorge provozieren, dass es zu Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken kommt. Jeder von Herzinfarkt oder Schlaganfall Betroffene erhält sofortige medizinische Hilfe. Schwere psychische Erkrankungen sind im Schweregrad mit diesen körperlichen krisenhaften Krankheiten vergleichbar – sofortige aufsuchende Hilfen stehen an dieser Stelle aber kaum zur Verfügung. Familien werden mit diesen schwerst kranken Patienten alleine, Patienten sich und ihren schweren Symptomen selbst überlassen.

Klinisch-psychiatrisch Tätige sollen nach Einlieferung dieser therapeutisch völlig vernachlässigten Patienten diese Defizite ausgleichen – was für eine Zumutung für alle Beteiligten!! Dabei sind psychiatrische Kliniken chronisch und nicht zuletzt wegen Personalmangel überlastet.
Die kommunale Daseinsvorsorge und die ambulante medizinische Versorgung versagen an dieser Stelle trotz hohem Engagement der Mitarbeiter wegen unzureichender Finanzierung, Mangel-Ausstattung und Kompetenz-Begrenzungen.
Verhandlungen der Politik und der Kostenträger zur Einrichtung landesweit flächendeckender psychiatrischer kurzfristig aufsuchender Krisen- und Nachsorge-Dienste müssen dringend zum Erfolg geführt werden. Zu viele notleidende psychiatrische Patienten leben vereinsamt und außerhalb der Hilfe-Systeme. Sie bedürfen dringend therapeutischer Zuwendung. Deren häufig anzutreffende krankheitsbedingte Ablehnung von Hilfen kann durch vertrauenserweckende wiederholte Verhandlungs-Angebote durch Fachdienste oft und zum Vorteil aller Beteiligten überwunden werden.

Psychiatrische Prävention erspart teure Folgekosten, vermeidet Suizide und Gewalt gegen Dritte, soll den Betroffenen die Rückkehr ins Sozial- und Erwerbsleben ermöglichen, was bisher nur in Ausnahmefällen gelingt.

LV Hessen der Angehörigen psychisch Kranker e.V., www.angehoerige-hessen.de, Facebook-Seite ist über die Website erreichbar

Hier gehts zum FR-Artikel vom 24.11.2019:

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Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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