Janine Berg-Peer/ Juli 11, 2013/ Angehörige/ 2Kommentare

rucola-160-120Auch Angehörige psychisch Kranker sind pflegende Angehörige!

Wenn man an pflegende Angehörige denkt, dann stellt man sich Menschen vor, die zuhause für einen bettlägerigen Menschen sorgen müssen, für einen Menschen, der nicht mehr alleine essen kann, der vielleicht Schwierigkeiten hat, sich zu waschen oder überhaupt aus dem Bett aufzustehen. Oder an jemanden, der Schwierigkeiten hat zu gehen und für den alltägliche Einkäufe gemacht werden müssen. Jemanden, für den man Behördengänge oder Post erledigt. Jemanden, der im Rollstuhl sitzen muss und dem man dabei unterstützt, sich im Rollstuhl fortzubewegen. Aber es sind nicht nur die praktischen Hilfen, die belasten, sondern es tut auch weh, wenn man einen Mensch, der früher lebenslustig und tatkräftig war, nun so hilflos erleben muss und auch zu spüren, wie diese Hilflosigkeit den Menschen unglücklich macht. Diese pflegenden Angehörigen haben meine große Bewunderung. Vielleicht ist es für pflegende Angehörige besonders belastend, wenn ein Mensch in die Demenz abgeleitet und den pflegenden Angehörigen nicht mehr erkennt oder, wie es auch vorkommt, ihm gegenüber misstrauisch oder gar aggressiv wird.

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Und gerade dieser letzte Aspekt ist es, den wir als Angehörige von psychisch kranken Menschen oft seit Jahren erfahren. Auch wir betreuen und pflegen unsere erkrankten Angehörigen. Nur ist es eine andere Art von Betreuung und Pflege. Oft sind wir konfrontiert mit verstörendem und unverständlichem Verhalten. Das allein macht uns oft schon Angst. Hinzu kommt, dass viele unserer erkrankten Angehörigen gerade den Eltern gegenüber ablehnend, misstrauisch, verletzend sind. Und dennoch müssen und wollen wir immer loyal zu ihnen stehen und uns auch gegen ihren Widerstand kümmern und sie „betreuen“.  Was heißt es, psychisch kranke Angehörige zu betreuen? Betreuen heißt, dass wir immer wieder den Kontakt suchen, auch wenn die Betroffenen es ablehnen. Es heißt, dass wir oft auch im hohen Alter in die Wohnungen unserer erkrankten Kinder kommen und dort aufräumen und putzen. Das tun wir nicht, weil es uns um Ordnung geht, sondern das tun wir, weil wir die berechtigte Angst haben, dass unseren Kindern die Wohnungen fristlos gekündigt werden. Nicht wenige von uns haben das erlebt. Und zur Betreuung gehört dazu, dass wir große Mühe haben, mit dem wenigen Geld, das oft zur Verfügung steht, eine neue Wohnung zu suchen. Es gibt wenige Vermieter, die Menschen aufnehmen, die von Hartz IV oder Grundsicherung leben und deren letzte Wohnung fristlos gekündigt wurde. Aber wir wollen unsere Kinder vor der Obdachlosigkeit bewahren.

Zwiebeln-pixelio-160-120Auch Angehörige psychisch Kranker sind pflegende Angehörige!

Betreuung heißt für uns auch, dass die meisten von uns 24 Stunden am Tag in einer inneren Anspannung leben. Wir können unsere Telefone oder Handys nicht klingen lassen, ohne abzuheben. Oft zittern wir schon beim ersten Klingelton, weil wir befürchten, dass unserem Kind etwas zugestoßen ist, dass es unserem Kind es schlecht geht, dass unser Kind dringend etwas braucht, nichts mehr zu essen hat, den Haustürschlüssel verloren hat und nachts im Park steht und nicht weiß, wo es hin soll, weil es nicht einmal den Weg zu uns findet. Wir zittern auch, weil wir Angst haben dass der Anruf nicht von unserem Kind kommt, sondern von einem Krankenhaus oder der Polizei, weil diese unser Kind „aufgegriffen“ hat oder gleich ins Krankenhaus bringen musste. Betreuung und Pflege heißt für uns auch, dass wir oft große finanzielle Bürden auf uns nehmen müssen, weil unsere erkrankten Kinder in den schlimmen Phasen sehr viel Geld ausgeben. Und weil wir immer wieder zerstörte Wohnungsgegenstände, verlorene Gegenstände oder zerrissene Kleidung ersetzen müssen. Oder wollen. Wir möchten nicht, dass die Krankheit unsere Kinder in Lebensbedingungen führt, die wir einfach nicht ertragen können.

03_ForschungAuch Angehörige psychisch Kranker sind pflegende Angehörige!

Und noch etwas ist für uns bei der Betreuung unserer erkrankten Angehörigen besonders belastend: Unseren Kranken sieht man die Krankheit oft nicht an, daher bekommen wir oft ungebetene Ratschläge von der Umwelt: Wir würden die Kinder zu sehr verwöhnen, hätten sie falsch erzogen. Und auch die Diskriminierung psychisch Kranker und ihrer Angehörigen gehören zu der großen Belastung für uns. Wir werden oft ebenso stigmatisiert wie unsere Kinder, Freunde und Familie wenden sich ab. Und Betreuung heißt für uns auch, dass wir uns gegen verbale und manchmal sogar körperliche Aggressionen unserer Erkrankten wehren müssen, aber dennoch immer liebevoll und fürsorglich für sie bleiben wollen. Weil wir wissen, dass unser Kind krank ist, nicht böse. Betreuung heißt für uns auch, dass wir damit kämpfen, nicht die anderen Menschen in unserem Leben, weitere Kinder Lebenspartner, zu vernachlässigen. Die Erkrankten nehmen so viel Raum ein und kosten uns so viel Kraft, dass es manchmal schwer fällt, auch noch Kraft für weitere Menschen zu haben. Und Betreuung heißt für uns vor allem, dass wir selten Zeit für uns selbst haben. Und das, nicht nur weil wir 24 Stunden für unser erkranktes Kind zur Verfügung stehen, sondern auch, weil wir selbst auch in ruhigeren und besseren Phasen physisch und emotional so erschöpft sind, dass wir uns um uns selbst schon gar nicht kümmern können.

Pflege und Betreuung von psychisch Erkrankten ist vielleicht nicht immer körperlich eine große Anstrengung, aber es ist eine ungeheure emotionale und psychische Anstrengung, ein lebenslang anhaltender Stress, der uns Angehörige selbst oft in physische oder psychische Erkrankungen führt.

Bildnachweis: © w.r.wagner / pixelio und eigene Bilder.

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

2 Kommentare

  1. Hallo Janine!
    Der Beitrag über Pflege und Betreuung psychisch Kranker war wieder sehr zutreffend. Besonders die emotionale Anstrengung wird wohl nie enden.
    Besonders zutreffend sind auch Ihre Berichte im Buch über unerwartete Reaktionen. Man weiß manchmal wirklich nicht,was man sagen soll.
    Wie haben denn die Geschwister von Lena auf ihre Krankheit reagiert?. Mein Sohn hat einen älteren Bruder, der zwischen Verständnis und Unverständnis schwankt. Es ist, glaube ich schwierig, Geschwistern die immer wieder neu auftauchenden Situationen klar zu machen.
    Ich muß wieder bestätigen, Ihr Buch ist hervorragend und trifft die Problematik sehr genau, ich habe die für mich wichtigen Stellen angekreuzt.
    Vielleicht kommen Sie mal nach München zu einer Lesung??
    Viele Grüsse 🙂

  2. Liebe Frau Müller,
    ganz herzlichen Dank für Ihren Kommentar zu meinem Buch und zum Beitrag über Pflege. Ja, ich habe von vielen Angehörigen gehört, dass sie alles sehr gut – leider – nachvollziehen können, was ich beschreibe. Mit den Geschwistern ist es nicht so einfach, wie auch mit der gesamten Familie. Aber auch das kennen viele.
    Ich komme gern nach München – vielleicht kennen Sie einen Ort, einen Initiative, einen Buchhandlung, die eine Lesung organisieren möchte?
    Herzliche Grüße
    Janine Berg-Peer
    Janine Berg-Peer

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