Janine Berg-Peer/ Januar 22, 2014/ Alle Artikel, Angehörige/ 4Kommentare

rucola-160-120Psychische Krankheit ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen!

Diesen schönen Satz sagte eine junge Frau zu mir, die selbst Erfahrungen mit psychischer Krankheit gemacht hat. Das hätte ihre Mutter zu ihr gesagt, bevor diese sich entschloss, nun endlich eine Reise zu machen, bei der sie sich selbst erholen konnte. Die junge Frau fand das vollkommen in Ordnung. Sie meinte sogar, dass ihr diese Aussage ihrer Mutter geholfen habe. Es sei gut für sie, wenn ihre Mutter Klartext redete. Und es sei auch gut für sie, wenn ihre Mutter ihr sehr klar sagt, was sie stört oder mit welchen Verhaltensweisen sie Probleme hat. Das würde ihr helfen, über ihre Wirkung auf die Außenwelt nachzudenken. Sie sei nicht immer einer Meinung mit ihrer Mutter, aber es sei dennoch viel besser, als wenn ihre Mutter immer Rücksicht nehmen wolle und sie, die Tochter, aber dennoch merken würde, dass der Mutter etwas zu viel würde.

Psychische Krankheit ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen!

Ich fand das interessant. Auch ich nehme viel zu viel Rücksicht. Oft bin ich genervt, wenn meine Tochter wieder anrufet, aber ich denke dann, ich muss jetzt für sie da sein und darf mir das „nicht anmerken lassen“. Natürlich wissen wir, dass meine Tochter dann dennoch merkt, das irgendetwas nicht stimmt. Und das verunsichert sie vielleicht. Jetzt sage ich ihr deutlicher (nicht immer gelingt es mir richtig gut), wann sie anrufen kann und wann bitte nicht. Natürlich bis auf Notfälle. Und wenn es wieder zu Konflikten kommt wegen Forderungen – Geld, Zigaretten, ich als Taxi, neue Pullover – dann kann ich jetzt schon deutlich sagen, was ich machen will und was nicht. Und wenn sie laut wird, dann stehe ich auf. 

Psychische Krankheit ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen!03_Forschung

Sie kennen das alle: Ich bekomme viele Anrufe von verzweifelten Eltern, nein, natürlich sind es fast immer die Mütter, die nicht wissen, was sie machen sollen. Denn der Sohn oder die Tochter weigert sich, Tabletten zu nehmen oder zum Psychiater zu gehen. Oder zum Therapeuten. Oder eine Tagespflege in Anspruch zu nehmen. Und bei den Müttern bleibt natürlich immer die Angst: Was, wenn ich trotz dieser Weigerung nicht alle Wünsche erfülle? Was, wenn ich mich nicht um eine neue Wohnung kümmere? Oder den Sohn doch wieder in die eigene Wohnung oder das eigene Haus aufnehme? Heute sage ich, dass die Erkrankten auch Verantwortung übernehmen müssen. Wenn sie entscheiden, dass sie keine Medikamente nehmen, dann muss ich nicht die Konsequenzen dieser Entscheidung tragen. Wenn unsere Kinder entscheiden, keine Hilfe anzunehmen, nicht ins Krankenhaus zu gehen, dann ist das ihre Entscheidung, aber dann muss ich nicht alle Folgen tragen. Es gibt sicher Formen der Erkrankung, wo die Betroffenen gar keine Verantwortung mehr übernehmen können. Dann müssen wir helfen und wir tun es ja auch alle.

schizo-scheiße-160-120Psychische Krankheit ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen!

Aber woher wissen wir, ob der Erkrankte Verantwortung übernehmen kann? Oder ob er es nicht kann? Wir können das nur selbst herausfinden, in dem wir Verantwortung abgeben. Wenn wir immer alles besser können oder schneller sind oder alle Hindernisse aus dem Weg räumen, dann werden die Erkrankten sich auch nicht erproben können. „Woher wissen Sie denn, dass Ihre Tochter obdachlos wird, wenn  Sie sie nicht ins Krankenhaus zwingen?“ fragte mich einmal wütend ein Betroffener, als ich bei einem Vortrag von meinen Ängsten erzählte. Damals fand ich ihn „böse“, aber heute verstehe ich ihn besser. Unsere Kinder müssen sich nicht um unsere Ängste kümmern müssen. Sie haben genug mit sich selbst zu tun. Außerdem können wir letztlich doch nicht alles verhindern, so sehr wir uns auch bemühen. Eine Angehörige hört manchmal monatelang nichts von ihrer Tochter und sie vermutet, dass die Tochter dann obdachlos ist. Aber die Tochter taucht immer wieder auf, und wenn sie auftaucht, ist es weder besser noch schlechter als vorher. Sie hat dann auch manchmal wieder gute Phasen. Aber auch dann terrorisiert sie ihre alten Eltern: Sie verlässt die Wohnung nicht, wenn die Eltern das wollen, verlangt, nachhause gefahren zu werden und braucht dann doch 1 Stunde, bis sie so weit ist. Sie räumt die Wohnung der Eltern um, verlangt nur eine bestimmte Sorte Essen und überprüft, wie es gekocht wird, wirft das Essen dann doch weg. Wir wissen, dass das alle krankheitsbedingt ist. Wir dürfen es dieser Tochter nicht übel nehmen. Aber wir müssen das auch nicht ertragen. Wir müssen und dürfen Grenzen setzen. Weil es sonst uns nicht gut tut. Und, vor allem, weil es auch die Gesundung der Tochter überhaupt nicht fördert.

Psychische Krankheit ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen! Janine-Winter-250

Die Eltern sollten dieser Tochter sagen, unter welchen Bedingungen sie in die Wohnung der Eltern kann und wann nicht. Und wenn die Tochter das krankheitsbedingt nicht einhalten kann, dann darf sie eben nicht in die Wohnung der Eltern. Dann trifft man sich zu einer Tasse Kaffee im Café. Oder bringt ihr Essen vorbei und isst bei der Tochter. Dann kann  man sofort gehen, wenn es schwierig wird. Wir müssen uns retten, denn wenn wir mit unseren Nerven am Ende sind, können wir niemandem helfen. Auch nicht dem erkrankten Kind. Psychische Krankheit ist keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen!   Aber wir müssen für andere Menschen da sein, die wir lieben und die ein Anrecht auf aus haben: Liebespartner/innen, weitere Kinder, Enkelinder oder auch Freunde und Freundinnen. Ich weiß, dass das schwierig ist. Aber es lohnt sich. Ich habe es erfahren. Und auch wir Angehörigen haben ein Anrecht auf ein gutes Leben. Eines, das vielleicht nicht ganz so gut ist, wie wir es uns vorgestellt haben, aber es muss und darf auch gut sein.

Bis bald und viele Grüße!

Das schöne Bild von mir hat Tomas Fröhlich gemacht, www.thfröhlich-fotoevents.de En wudnerbarer Fotograf!

Das Gemüse, wie immer ist von: Bildnachweis: © w.r.wagner / pixelio

 

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

4 Kommentare

  1. Hallo Janine!
    Ihr Beitrag „Psychische Krankheit ist keine Eintschuldigung für schlechtes Benehmen“ hat mir sehr aus der Seele gesprochen.
    Aber es ist so schwierig, einem Kranken , wenn er sich ärgert und mit der Faust auf den Tisch haut, klarzumachen, das dies nicht geht. Nach einer Zeit entschuldigt sich mein Sohn dann, aber es ist sehr belastend, wenn es auf einmal bei einem schönen Essen und ( in meinen Augen) entspannter Atmosphäre passiert!
    Ich lese Ihre Beiträge immer mit großem Interesse!
    Vielen Dank!
    Maria Mueller

    1. Ja, es ist nicht einfach. Bei manchen Verhaltensweisen müssen wir uns eine feste Haltung geben und sagen,d ass wir das nicht akzeptieren. Und dann gibt es manches, daran muss man sich einfach gewöhnen. Und das kann man auch von Freunden erwarten, man muss es ihnen nur erklären.
      Grüße aus Berlin

  2. Liebe Janine,

    ich fühle mich mit Ihrem Beitrag tief identifiziert. Meine Schweste leidet an einer manische-depressive Störung und das Zusammenleben mit ihr fällt mir immer schwerer. Ich weiß nicht, ob Sie diese Erkrankung gut kennen aber es ist einfach unvorhersagbar. Das macht viel kaputt, vor allem meine eigene psychische Stabilität. Ich habe einen Test durchgeführt und laut der Auswertung tendiere zu einer Depression. Ich war schon immer die gesundeste der Familie, könnte es sein, dass ich aufgrund der Erkrankung meiner Schwester, mich erkranken werde? Herzliche Grüße und danke nochmal für Ihre interessante Beiträge.
    María

    1. Sie müssen auf sich aufpassen, wir dürfen uns nicht „anstecken“ lasse, sondern müssen etwas dafür tun, dass es uns gut geht. Wir müssen auch für uns selbst dasein.

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