Janine Berg-Peer/ Oktober 27, 2014/ Alle Artikel/ 0Kommentare

espresso-160-120Finzen – Gewalt und psychisch Kranke 

Asmus Finzen hat mir freundlicherweise erlaubt, seinen Artikel zu diesem wichtigen Thema hier zu veröffentlichen.

Asmus Finzen (2014): Tödliche Gewalttaten psychisch Kranker gegen Fremde sind selten

Das Bild vom unberechenbaren und gefährlichen psychisch kranken Gewalttäter, der ohne jeden Grund harmlose Passanten angreift, ist weit verbreitet. Dieses Bild wird nicht nur von der Boulevardpresse verbreitet. Gewiss, solche Angriffe kommt vor; aber sie sind selten. Unter Fachleuten bestand lange die Neigung, die potentielle Gefährdung Dritter durch psychisch Kranke zu verharmlosen. Eine englische Anti-Stigma-Kampagne verstieg sich sogar zu der Behauptung, die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden, sei höher als die Gefährdung durch Gewalttaten psychisch kranker Menschen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen bei problematischer Datenlage eine mässige Erhöhung der Gewaltrate psychisch kranker Menschen. Es wäre falsch, das zu bestreiten. Aber es geht nicht an, psychisch Kranke global als „unberechenbare und gefährliche Gewalttäter“ zu denunzieren. Es gilt Augenmass zu bewahren, vor allem aber zu differenzieren.

Die Angst vor dem „fremden“ Gewalttäter

Vor allem die Angst ist gross, auf der Strasse oder in der U-Bahn ohne jeden Grund von einem „unberechenbaren und gefährlichen“ psychisch Kranken angegriffen zu werden. Eine aktuelle Untersuchung zeigt, dass diese Angst im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte noch zugenommen hat. Medienberichte tragen dazu bei, sie noch zu verstärken. Aber genau diese Angst ist so nicht berechtigt. Das Stereotyp vom psychotischen Gewalttäter, der blindwütig und unberechenbar durch die Gegend zieht und Fremde angreift, ist falsch. Im Gegenteil: Gewalttaten psychisch kranker Menschen an Fremden sind sehr selten. Auch allgemein sind tödliche Gewalttaten gegen Fremde selten: In Deutschland kennen nur zehn Prozent der Mord- und Totschlagsopfer ihre Mörder nicht.

Finzen – Gewalt und psychisch Kranke

Blaubeeren

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Die verfügbaren Zahlen über tödliche Gewalttaten psychisch Kranker gegen Fremde vermitteln ein anderes Bild. So stellt die Neuseeländische Mental Health Commission fest: „Von 84 Menschen, die zwischen 1988 und 2000 durch Fremde getötet wurden, waren nur zwei Opfer von Menschen mit schwerer psychischer Krankheit.“ Das kanadische „Recovery-Network“ berichtet für 2009: Von 598 Mord- und Totschlagsopfern wurden 90 von Fremden getötet. Davon litten zwei an schweren psychischen Krankheiten. Die Schlussfolgerung der kanadischen Organisation: es sei 299-mal wahrscheinlicher, von jemand anderem ermordet zu werden als von einem psychisch kranken Fremden.

Eine der wenigen aussagekräftigen wissenschaftlichen Untersuchungen zur Frage der Häufigkeit von Tötungshandlungen Schizophreniekranker an Fremden findet sich im renommierten Schizophrenia Bulletin (37: S. 572-579). Es handelt sich dabei um eine Metaanalyse, die Untersuchungen aus Australien, England, Deutschland, Dänemark, Schweden und Finnland umfasst. Sie beziffert das durchschnittliche Risiko, Opfer von psychosekranken Fremden zu werden, auf eins zu 14,3 Millionen pro Jahr. Dabei schwankt das errechnete Risiko zwischen eins zu 7 Millionen in Dänemark und Australien (beide mit weniger als 7 Millionen Einwohnern – und damit weniger als einem Fall im Jahr) und eins zu 18 Millionen in England. Dort wurden nur Täter erfasst, die nach einer psychiatrischen Begutachtung verurteilt wurden. Obwohl dort 7,8 % aller Tötungshandlungen von Schizophreniekranken begangen, waren es nur 4,3 % der Tötungen von Fremden.

Finzen – Gewalt und psychisch Kranke

Jeder Mord einer zu viel. Das darf uns aber nicht daran hindern, die Dimensionen der Bedrohung differenziert zu betrachten. Aufgrund der internationalen Datenlage müssen in Deutschland damit rechnen, dass in jedem Jahr 5-6 Menschen Opfer von psychosekranken Personen werden, die ihnen unbekannt sind, zu denen sie keinerlei persönliche Beziehung haben. Ohne Zweifel sind das zu viele. Aber das ist kein Grund, 1,7 Millionen nach dem deutschen Gesundheitssurvey als psychotisch klassifizierte Mitbürger als potentielle unberechenbare und gefährliche Gewalttäter diskriminieren.

 

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Verwendete Literatur

 

Gesundheitssurvey

Polizeistatistik

New York Post

Neuseeland: Mental Health Commission

Canada Recovery network

Schizophrenia Bulletin

Schottland

 

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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