Janine Berg-Peer/ Mai 6, 2021/ Alle Artikel, Angehörige, Kritisches, Termine/ 0Kommentare

Angehörige von psychisch Erkrankten: Outen oder verheimlichen?

Ich dachte, wir hätten die Angst, als Angehörige eines psychisch Erkrankten entlarvt zu werden, lange hinter uns. Aber es scheint immer noch für viele Angehörige ein Problem zu sein, offen darüber zu sprechen. Wie schade. Dadurch haben sie nicht die Möglichkeit, herauszufinden, ob andere Menschen wirklich so negativ reagieren, wie sie es annehmen. Ausserdem kommen andere Menschen nicht mit psychischen Erkrankungen  in Berührung. Sie können nicht feststellen, dass es ganz normale Menschen sind, deren Kinder psychisch krank werden. Sie verhindern, dass Andere ihnen berichten können, dass sie auch in ihrem Umfeld psychisch Erkrankte haben: Eltern, Geschwister, Kinder, Onkel, Tanten, Neffen und Nichten. Das kommt nämlich viel häufiger vor, als wir denken.

Angehörige von psychisch Erkrankten: Outen oder verheimlichen?

Es ist mir schon häufig passiert. Wenn jemand meinen Namen kennt, dann spricht er mich oft auf das Buch „Schizophrenie ist scheiße, Mama!“ an. Die Apothekerin hat eine Mutter, die an Schizophrenie leidet. Der Juwelier hat eine Schwägerin, die bei ihnen wohnt und die bipolar ist. Die Schwiegermutter des Zahnarztes ist depressiv. Gerade weil es oft so schwierig ist, jemanden zu finden, mit dem man über eine psychische Erkrankung reden kann, finden es viele Menschen entlastend, wenn sie dann mal wirklich jemanden treffen, der in einer ähnlichen Situation ist.
Meine Tochter Henriette Peer und ich wir bieten mehrmals monatlich Online-Gruppen für Angehörige psychisch Erkrankter an und stellen fest, dass die Nachfrage groß ist. Es melden sich immer mehr Menschen an und bei einer Veranstaltung vor zwei Wochenhatten wir tatsächlich 36 Anmeldungen. Wir haben bislang immer alle zugelassen, die kommen wollten, haben aber festgestellt, dass bei dieser Gruppe plötzlich viele Gesichter auf ZOOM zu sehen waren, aber gleichzeitig auch über zehn schwarze Rechtecke, auf denen entweder gar nichts stand oder nur SP oder Barbara F.

Angehörige von psychisch Erkrankten: Outen oder verheimlichen?

Ich finde das schade, denn ich wusste dann nicht, wer da war, ich konnte sie auch nicht ansprechen, da ich die Namen nicht kenne. Aber nicht nur mich hat das gestört, sondern ich erhielt viele Mails und sogar Anrufe. Viele der Angehörigen, die sich mit vollem Namen zeigen, fanden es störend, dass sie sich outen und von anderen, die sich verstecken, beobachtet werden. Das hat mir zu denken gegeben und ich fand es auch einleuchtend. Also schrieb ich an alle, dass ich sie bitte, doch beim nächsten Mal die Kamera anzustellen und auch den vollen Namen zu nennen. Das gefiel nicht allen. Ein Viertel der Angeschriebenen hat sich sofort abgemeldet und einige haben mir sogar böse Mails geschrieben, dass meine Forderung absolut rücksichtslos sei und auch ungerecht. Es sei doch ein so sensibles Thema und da könne man nicht erwarten, dass sich alle outen.
Ja, es ist ein sensibles Thema, aber das gilt für alle der Beteiligten und da müssen dann für alle die gleichen Bedingungen gelten. Ich verstehe, dass es für manche schwierig ist, sich zu outen, aber sie können dann nicht verlangen, dass sie anonym teilnehmen, während andere tapfer ihr Gesicht und ihren Namen zeigen.

Angehörige von psychisch Erkrankten: Outen oder verheimlichen?

Es hat mir für diejenigen, die nicht mehr kommen, leid getan, ich hätte auch ihnen gerne Gespräche angeboten. Auf der anderen Seite frage ich mich, weshalb immer noch so viele Menschen verschwiegen wollen, dass ihre Kinder, ihre Lebenspartner oder ihre Eltern psychisch erkrankt sind. Ich dachte, wir seien jetzt schon soweit, dass es keine Schande mehr ist, eine psychische Erkrankung zu haben. Wollen gerade wir Angehörigen nicht dazu beitragen, dass die Betroffenen sich nicht mehr verstecken oder sich schämen müssen? Es scheint da noch viel zu tun zu sein.
Ich weiß, dass viele Angehörige sagen, sie würden ja darüber sprechen, aber ihre Kinder wollten es nicht. In so einem Fall würde ich mit meinem Kind reden und ihm verständlich machen, dass es nichts gibt, weshalb man sich schämen müsse. Vor allem aber würde ich meinem Kind sagen, dass es sich selbst und anderen Menschen mit einer psychischen Erkrankung sogar hilft: je mehr Angehörige sich zeigen und damit beweisen, dass ganz normale Menschen psychisch kranke Kinder aber können, desto besser wirkt das gegen Stigma. Je mehr Betroffene sich zeigen und erkennen lassen, dass psychisch Erkrankte völlig normale Menschen sind, die aber unter einer psychischen Erkrankung leiden, desto besser.

Angehörige von psychisch Erkrankten: Outen oder verheimlichen?

Meine Mutter war manisch-depressiv und es ging ihr häufig sehr schlecht. Vor allem aber ging es ihr schlecht, weil vor vielen Jahren noch weniger Menschen über psychische Krankheiten sprachen, als es heute möglich ist. Sie musste undercover leiden, und erst heute weiß ich, wie viel besser es ihr getan hätte, wenn wir alle offen mit ihrer Erkrankung umgegangen wären. Ich war zwölf und verstand nicht, weshalb sie manchmal ins Krankenhaus verschwand, oder so viel weinte. Ich habe jahrelang geglaubt, ich sei sicher böse oder lieblos gewesen, weil meine Mutter oft traurig war. Es wäre gut gewesen, wenn wir in unserer Familie offen über die Krankheit meiner Mutter gesprochen hätten. Das Schweigen ging so weit, dass meine Mutter froh war, als sie Brustkrebs bekam, weil sie endlich über diese somatische Krankheit sprechen konnte und auch plötzlich von Verwandten und Bekannten liebevolle Briefe oder schöne Blumensträuße bekam mit der Frage, ob es ihr denn schon besser ginge.
Heute stelle ich mir die Frage, ob es ihr nicht gut getan hätte, wenn diese Menschen ihr schon früher geschrieben oder sie angerufen und gefragt hätten: „Geht es schon ein bisschen besser? Wirken die neuen Medikamente? Hilft die Psychotherapie? Gibt es etwas, was ich für Dich tun kann?“
Aber das tat keiner, weil man ja über psychische Erkrankungen nicht spricht. Weil man psychische Erkrankungen ja verheimlichen muss. 

Nein, das müssen wir nicht. Ich werde zusammen mit meiner Tochter weiterhin dafür kämpfen, dass psychische Krankheiten aus der Schmuddelecke herauskommen und es völlig normal wird, zu erzählen, dass man vor einigen Wochen im Krankenhaus war, weil man an einer Psychose litt.

Wer mit Klaramen und angeschalteter Kamera -:) an einer unserer Online-Gruppen teilnehmen will, kann das tun. Wir freuen und darauf.

Klee

Hier die Liste der Termine 2021. Immer mal wieder in den Blog schauen, es kommen immer wieder  Online-Veranstaltungen dazu.

AA-ONLINE-TERMINE-6.5.2021.docx

Bis zum nächsten Mal!

Janine Berg-Peer

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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