Janine Berg-Peer/ Januar 26, 2013/ Alle Artikel/ 2Kommentare

03_ForschungHeute habe ich mich geärgert, sehr geärgert über einen Artikel im SPIEGEL, in dem die Kategorisierung von psychischen Krankheiten mit einem dümmlichen Beispiel lächerlich gemacht wurde, die Verflechtung von Medizinern und Pharmaindustrie entlarvt und das Einnehmen von Neuroleptika als  schädlich gebrandmarkt wurde. Als „Zeugen“ wurden dazu passende Mediziner ausgesucht, die immer schon gewusst haben, dass Pharmafirmen böse und Medikamente gegen psychische Krankheiten – wenn überhaupt – nur den Pharmafirmen nützen.

Es ist richtig, dass es Psychiater gibt, die den Pharmafirmen nahestehen, das sollte auch gesagt werden. Es mag auch sein, dass häufig zu viele und zu wenig überwacht Medikamente genommen werden. Auch das muss man kritisieren.

Aber dieser Artikel spielt wieder denen in die Hände, die immer schon gewusst haben, dass Neuroleptika schädlich sind, dass Ärzte schamlos und Pharmafirmen völlig skrupellos hilflose psychisch Kranke als Geldmaschine benutzen.

Wir Angehörigen und auch viele Psychiater wissen, wie schwer es oft ist, einen psychisch Kranken dazu zu bewegen, die Medikamente zu nehmen, die ihm oder ihr ein gutes Leben schenken könnten. Ich halte es für unverantwortlich, Medikamente gegen psychische Krankheiten in Bausch und Bogen zu verdammen. Wir wissen noch, wie die Situation für psychisch Kranke aussah, als es noch keine Medikament gab. Auch die Aussage, dass z.B.  Schizophrenie heute ausschließlich als eine neurologische Krankheit gesehen und und Umweltfaktoren viel zu wenig berücksichtig werden, erstaunt mich. Wo wurde hier recherchiert? Wer sagt das? Und wieso werden hier die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung nicht mit einbezogen? Aber wenn man die Namen der „Zeugen“ dieses Artikels liest, dann ist alles klar: Die meisten verdiente alte Recken der Sozialpsychiatrie, die ihre großen Verdienste – auch und vor allem für uns Angehörige – haben, an denen aber vielleicht manches an neuerer Forschung vorbeigegangen ist, weil es nicht in ihr Weltbild passt.

Richtig ist, dass Medikamente sehr kontrolliert und vorsichtig gegeben werden sollen. Und richtig ist auch, dass Psychiater vielleicht mehr als bislang immer wieder überprüfen sollten, ob die Dosis im Verlauf noch die Richtige ist. Richtig ist es auch, dass es Menschen gibt, die ohne Medikamentengabe wieder gesund werden. Aber die meisten Menschen, die ein- oder mehrfach eine Krankheitsepisode hatten, können vor allem dann ein gutes Leben leben, wenn sie diese Medikamente regelmäßig nehmen.

Worüber der Spiegel wirklich einmal engagiert schreiben sollte ist das, was wirklich nötig wäre, um psychisch Kranken ein gutes Leben zu ermöglichen mit möglichst wenig Tabletten: Ein System außerhalb des Krankenhauses, in dem Menschen wahrgenommen und unterstützt werden, wenn sie in eine Krise geraten. Ein System, dass Menschen nicht nur mithilfe von Tabletten dabei hilft „mit der Krankheit zurecht zukommen“, sondern ihnen den Weg zurück in eine Leben mit Arbeit und Liebe ermöglicht. Es ist gut, dass es eine EU-Rente gibt, es ist nicht gut, wenn immer mehr junge Menschen mit 23 Jahren diese Rente erhalten und sich niemand darum bemüht, ihnen dabei zu helfen, wieder selbst Geld zu verdienen. Es stimmt auch, dass Menschen dann wieder in eine Krise rutschen könnten, aber sollte es den Versuch nicht wert sein, statt sie mit 23 dazu zu verdammen, die nächsten 50 Jahre beschäftigungslos vor sich hinzuleben und als einzigen Außenkontakt den Töpferkurs in einem sozialpsychiatrischen Zentrum zu besuchen?

Wenn Tabletten schlecht sind (was ich nicht durchweg so sehe), dann müsste es ein Anliegen des Gesundheitssystems sein, andere Möglichkeiten zu finden, mit denen psychisch Kranken geholfen werden kann. Aber damit müsste man sich für einen Artikel schon sehr sorgfältig beschäftigen und das gäbe sicher auch nicht so eine schöne Schlagzeile.

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

2 Kommentare

    1. Danke für den Hinweis.

      Grüße

      Janine Berg-Pee

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