Janine Berg-Peer/ Oktober 27, 2014/ Alle Artikel/ 0Kommentare

Krankheit öffentlich machen – ja oder nein?

Ein Artikel mit der Überschrift „Es geht nicht nur um Dich“ hat mich nachdenklich gemacht Der Autor des Blog, Toby Katze, schreibt einen richtig schönen Blog mit dem Titel „dasgegenteilvontraurig“. Allein den Titel finde ich schon herrlich, daher lese ich ihn auch gern. Nur, und ihr merkt schon, dass jetzt ein „aber“ kommt, mit diesem Post vom 2.9.2014 habe ich so meine Schwierigkeiten. Der Autor reagiert auf eine Initiative von Psychologiestudenten, die vor einiger Zeit eine Anzeige geschaltet hatten, in der sich viele Student/innen dazu bekannten, in Therapie zu sein. Schon allein das „bekannten“ finde ich merkwürdig. Muss man sich dazu „bekennen“, wie etwa dazu Pädophiler oder Rassist zu sein? Was ist denn Besonderes dabei, eine Therapie in Anspruch zu nehmen? Das ist praktische Lebenshilfe, das bezahlen alle Unternehmen für ihre Führungskräfte, nur nennt man das dann Coaching. Dennoch fand ich die Initiative der Stundent/innen großartig, denn die Reaktion der Psychotherapeutenkammer ebenso wie die des Blogautors macht deutlich, dass man doch etwa vorsichtig damit sein muss, sich zu einer Therapie zu „bekennen“. Es scheint eben nicht normal zu sein. Die Psychotherapeutenkammer warnte sofort damit, dass man in einer Krisensituation keine wichtigen Entscheidungen treffen solle. Klar, richtig. Aber diese Entscheidung? Ich finde es richtig und gut, dass die Student/innen damit zeigen wollen – so habe ich sie verstanden – dass Therapie etwas normales und vernünftiges sein kann. Und ich habe es auch so verstanden, dass diese Student/innen trotz ihrer Therapie (oder gerade wegen ihrer Therapie?) in der Lage sind, ein normales Leben zu führen und zu studieren. Sonst wäre sie ja keine Student/innen mehr.

Krankheit öffentlich machen – ja oder nein?

Der Autor von dasgegenteilvontraurig argumentiert nun aber so: Es geht nicht nur um Dich, meint er, und verweist darauf, dass er Freunde und Familie in eine schwierige Situation brächte, wenn sie plötzlich aus dem Internet erführen, dass ein Freund oder Familienmitglied psychisch krank sei. Ich will jetzt aber mal schnell noch anmerken, dass keinesfalls jeder Mensch, der sich eine Therapie sucht, psychisch krank ist! Ich gebe dem Autor recht, dass es merkwürdig für gute Freunde und die Familie ist, wenn sie von der psychischen Krankheit aus dem Internet erfahren. Aber da frage ich mich natürlich: Weshalb haben die das denn vorher nicht erfahren? Waren das wirklich gute Freunde, wenn sie vorher nicht wussten, dass jemand eine Depression oder eine Schizophrenie hat? Wie kann es denn sein, dass Mama oder Papa oder Oma oder Bruder oder Schwester nicht wissen, dass Sohn oder Enkel oder Bruder oder Schwester psychisch krank ist? Was geht denn da in der Familie vor?

 

Ich kann verstehen, wenn der Autor sagt, dass Freunde oder Familie den Erkrankten manchmal mit zu viel Sorge oder gut gemeinten Ratschlägen eher belasten. Aber das kann sich ja nur ändern, wenn Freunde oder Familie vom Erkrankten – oder aus Büchern – erfahren und wissen, wie solche Ratschläge wirken. Das können sie aber nur, wenn sie von der Erkrankung erfahren. Oder dass die Sorge der Eltern für das betroffene Kind eine zusätzliche Belastung darstellt. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe mir viel zu lange Sorgen gemacht, das war sicher nicht immer leicht für meine Tochter. Aber ich bin nicht der Meinung, dass die Erkrankten, die schon so viel ertragen müssen, sich Gedanken darum machen müssen, dass es Mama oder Papa oder Freunde  zu sehr belastet, weil sie sich vielleicht Schuldgefühle machen. Das ist Mamas oder Papas Problem. Statt sich mit Schuldgefühlen zu beschäftigen, können sie sich mit der Krankheit beschäftigen und ihren Sohn oder ihre Tochter unterstützen. Das können wir nämlich.

Krankheit öffentlich machen – ja oder nein?

Nein, ich bin froh über diese Student/innen oder über Sebastian Schlösser, der mit seinem wunderbaren Buch „Lieber Matz, dein Papa hat ´ne Meise!“ über seine Krankheit berichtet hat. Ich bin auch froh über jeden anderen Menschen, der über seine Krankheit – auch gern im Internet – berichtet. Denn psychische Krankheiten sind ganz normale Krankheiten, die ganz normale Menschen betreffen können. Und darüber sollten wir auch – auch im Internet – viel mehr reden, um all denen die Scheu zu nehmen, die meinen, dass sie nicht darüber sprechen dürfen, weil es ein schlechtes Licht auf sie wirft oder auf ihre Familie. Der Autor berichtet selbst, dass sein Vorgesetzter positiv darauf reagierte, als er über seine Depression berichtet hat. Auch meine Tochter hat nur gute Erfahrungen damit gemacht, offen über ihre Erfahrungen zu reden. Und außerdem: Meint wirklich irgendjemand, dass es Freunden oder Mama und Papa und Oma und Opa oder den Geschwistern verborgen bleibt, wenn man eine Depression, eine Manie oder eine Psychose hat? Nur bleibt es für sie verwirrend und verstörend, wenn sie die Diagnose nicht kennen, sondern nur beobachten, wie sich ein Mensch verändert. Das beunruhigt viel mehr, als die Diagnose zu kennen und zu erfahren, was man dagegen tun kann. Und vor allem: Wie die Freunde und Angehörigen sinnvoll (ohne ständige Sorgen) unterstützen können.

Krankheit öffentlich machen – ja oder nein?

Also, ja, es ist wirklich verstörend, wenn ich aus dem Internet erfahren muss, dass meine Tochter psychisch krank ist. Da gebe ich dem Autor Recht. Aber viel verstörender fände ich die Tatsache, dass meine Tochter es mir nicht erzählen kann, sondern erst ins Internet gehen muss, damit ich – vielleicht – auch erfahre, dass es ihr nicht gut geht. Ich bin also fürs öffentlich machen, was bekannt ist. Sicher würde ich mir gut überlegen, wie ich es öffentlich mache, mit welchen Worten und mit welcher Absicht. Aber das ist ja eine ganz andere Geschichte. Ich mache jetzt hier mal öffentlich, dass ich seit dem Krankheitsbeginn meiner Tochter immer wieder in Therapie war. Ich hätte die schwierigen Zeiten ohne meine Therapeutin nicht so gut überstanden. Mir wäre es schlechter gegangen und auch meiner Tochter, denn meine Therapeutin hat mir auch geholfen, vernünftiger und weniger besorgt mir meiner Tochter umzugehen.

Aber den Blog von Toby Katze lese ich weiterhin richtig gern.

 

Über Janine Berg-Peer

Wir bieten monatlich kostenlose Online-Gruppen für Angehörige an. Jeder kann sich anmelden. Termin finden Sie weiter oben im Blog. Alle zwei Monate bieten wir auch englische Online-Gruppen an. Janine: Seit 65 Jahren bin ich Angehörige: Meine Mutter litt an einer bipolaren Erkrankung und meine Tochter erhielt vor 28 Jahren die Blitzdiagnose (zehn Minuten) Schizophrenie. Kurz danach einigten die Profis sich darauf, dass sie an einer bipolaren Erkrankung leidet. Wir hatten gemeinsam schlechte, aber mehr gute Zeiten. Selten sind Menschen mit Krisengefährdung ja immer krank. Henriette: Heute "leide" ich gar nicht mehr an meiner bipolaren Erkrankung. Nein, sie ist nicht weg, aber mir geht es gut mit einer kleinen Dosis an Medikamenten und einem sozialen und sozialpsychiatrischen Netzwerk, das mich stützt. Ich arbeite seit über zehn Jahren als Genesungsbegleiterin, zunächst als ambulante Betreuerin, jetzt seit drei Jahren im Krankenhaus, was mir sehr viel Spaß macht. Dazu gehören auch Workshops mit Polizei, Angehörigen oder auch Pflegeschüler:innen. Gemeinsam unterstützen wir jetzt sei drei Jahren Angehörige. Wir berichten von unseren guten und schlechten Erfahrungen und beraten sie oder geben ihnen Hinweise, die sie übernehmen können oder eben nicht. Ich als Betroffene freue mich schon lange wieder am Leben, an meiner Arbeit, meinen Freund:innen und an meinem Kater Giacometti. Ich lese gern, höre sehr gern Musik und liebe Filme. Janine: Auch ich freue mich trotz allem immer noch am Leben, lese viel, liebe meinen Kater Basquiat, Rosen, Opern und Countertenöre, japanische und koreanische Filme . Gemeinsam schreiben wir an unserem neuen Buch für Angehörige, in dem wir versuchen, ihnen besser verständlich zu machen und warum manche Betroffene tun, was sie tun und wie Angehörige sich Graf einstellen können, um möglichst viele nutzlose Konflikte zu vermeiden. Arbeitstitel bislang: "Mensch Mama, mach Dir nicht ständig Sorgen um mich!"

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